Cloroform [Hey You Let's Kiss / Cracked Wide Open]

Energetischer Stilbruch.
Über Mundpropaganda, weshalb norwegische Musik immer höhere Standards setzt, körperliche und seelische Läuterung und was das alles mit den frenetisch zu feiernden Cloroform zu tun hat. Ein Erklärungsversuch.


"i'm almost always right."
(the all-righter)


Der Human Development Index, kurz HDI, macht es sich jedes Jahr zur Aufgabe, den Stand menschlicher Entwicklung in allen Länder dieser Erde anhand einiger, differenzierter Beobachtungskriterien zu beurteilen. Dieser jährliche Bericht des United Nations Development Programmes berücksichtigt Aspekte wie etwa die Lebenserwartung der jeweiligen Staatsbürger, das Bildungsniveau, die Rate der Analphabetisierung unter den Erwachsenen und die reale Kaufkraft pro Einwohner. All diese Teilindizes ergeben, nachdem man sie anhand einer überschaubaren Formel miteinander in einen Kontext setzt, einen Durchschnittswert, der im ganzen zwischen Eins und Null liegt. Wobei Eins den obersten Grenzwert darstellt. Innerhalb dieser Statistik belegt die Bundesrepublik immerhin einen vorderen Rang mit dem neunzehnten Platz. Das Land, welches anhand dieser Statistik zurzeit, wie auch im letzten Jahr, auf dem ersten Platz kursiert, ist Norwegen mit einem HDI von beachtlichen 0,956. (Quelle: Human Development Report 2004).

"Hey you sitting at the bar with the brown hair; With your brown drink, at you I stear."
(Hey You Let’s Kiss)

Mundpropaganda setzt sich immer genau dann durch, wenn sich die übliche Infrastruktur noch kein ausreichend differenziertes Bild eines Ereignisses gemacht hat. Sie ist jedoch auch stets unübersichtlich verästelt und wenig nachvollziehbar in ihrer netzwerkhaften Struktur. Die dänische Freundin eines Mitbewohners des in Berlin lebenden Bruders meiner Freundin. Das ist die komplexe URL im Netzwerk der Mundpropaganda in diesem expliziten Fall. Cloroform. Als das Video zu dem Stück Hey You Let’s Kiss über den dunklen Bildschirm meines Rechners flimmert, bin ich hin und her gerissen von dem schmalen Grad zwischen Wahnsinn und Genialität und entscheide mich für das einzig vernünftige, was sich in diesem Fall anbietet: tanzen und weitersagen. Es ging einfach nicht anders, als dass wir Kontakt mit dieser Band in Norwegen aufnehmen, und ihnen unsere Dringlichkeit und den Wunsch der Berichterstattung mitteilen mussten. A man’s got to do …

In besagtem Video, welches eine Komposition einzelner Live Auftritte visualisiert, sieht man einen smarten Sänger in einem Pete Townshend ähnelndem Arbeiter Overall, einen vollbärtigen Unterhemdträger, der mit einem Drumstick seinen riesigen Kontrabass malträtiert, sowie einen wild treibenden, völlig durchnässten Schlagzeuger auf einer kleinen Bühne stehen und eine Art von Performance darbieten, die sich in ihrer Dringlichkeit rhythmisch zwischen dem bewegt, was man sich unter Shows von Frank Zappa, den Sex Pistols, den Stray Cats und einem Jazz Trio vorstellen mag. Allein die Konstellation der Instrumente der drei Herren ist beneidenswert unorthodox: Sofort ins Auge sticht nicht nur optisch der bereits angesprochene Kontrabass, an welchem Øyvind Storesund – der auch für das Kaizers Orchestra und Wunderkammer spielt – die Stücke mit unmittelbar groovenden Bass Linien vorantreibt, ohne darauf zu verzichten immer wieder um diese Themen herum zu improvisieren. Børge Fjordheim vermischt Elemente aus Rock 'n' Roll und Jazz am Schlagzeug und transportiert diese mit dem Druck eines Heavy Metal Drummers in einer schroffen Ästhetik. Die Melodien der Stücke werden maßgeblich durch Clavinet und Keyboard geprägt, und scheinen mit ihrer klanglichen Old School Hommage diese immer wieder ad absurdum zu führen. Verantwortlich zeigt sich hierfür Mastermind John Erik Kaada, der neben Cloroform auch als Solokünstler und Soundtrack Komponist arbeitet. "Cloroform ist eine Art Läuterung für Körper und Seele", umschreibt er metaphorisch. "Wir wenden nicht viel Zeit dafür auf, darüber nachzudenken, was wir gerade tun – wir machen einfach was wir für das Richtige halten. Wir haben eine Menge Schmerz der kanalisiert werden muss, und das reflektieren wir in unserer Musik."

storesund, kaada Cloroform gelingt es diese düsteren und zorni-gen Elemente, aber auch die "rhythmische Finesse und harmonische Eleganz" (Mic Norway) zu differieren, und sich mit ihrer nonkonformistischen Musik souverän irgendwo zwischen Rockabilly Ästhetik, Free Jazz, Heavy Metal, Industrial, Britpop und Cut & Paste Electronica anzusiedeln. In Kaada’s Texten werden dabei gern bissig ironische Alltagsbeobachtung ("Bad Cop, bad Cop, no Donut" aus No Good) fallen gelassen. Zu meist sind die Stücke vornehmlich durch die beängstigend gut situierte Rhythmusarbeit vorangetrieben, um sich dann jäh in eine völlig andere Richtung zu bewegen. Dazwischen tummeln sich immer wieder ganz subversiv Musical Referenzen, Hillbilly Naivität und bizarre Samplezitate, wie das unterschwellige erklingen des Windows Start-up Jingles in dem vortrefflichen, immer wieder die Richtung wechselnden Song Crush. In einem Stück wie Special Needs lässt man dann jede Konvention und Pietät hinter sich, und springt zwischen präzisen Bass Riffs, verzerrten Keyboardmelodien, Industrial Sondeffekten, und lakonisch monotonen Wort Repetitionen auf der einen Seite und beatlesk, mehrstimmigen Harmonie Gesang auf der Anderen. "I want a new drug that will last forever / Gimme, Gimme, Gimme, Gimme". Analoges gilt auch für das maßgeblich für diese Besprechung verantwortliche Titelstück des vorletzten, und fünften Albums der Band, Hey You Let’s Kiss; Wenn hier die Zeile "Hey you, let’s kiss" abwechselnd voller Inbrunst übersteuert geschrieen um danach mit einem Vocoder deformiertem und hoch gepitchtem Klang, fast niedlich über einem Jazz-Punk-Elektronik-Konglomerat gesungen wird, dann dürfte dies hier zu Lande in der öffentlich-rechtlichen Berichterstattung Verwirrung und Distanzierung regnen und nicht etwa zu Äußerungen wie "One of the most exciting concerts in this year" (Staatliches Musik Informations Zentrum Norwegen) führen.

Cloroform stammen aus Stavanger, der viertgrößten Stadt Norwegens mit knapp 115000 Einwohnern. Kleinstädtische Verhältnisse, vergleicht man es mit den Maßstäben die in unserem Land über den fahlen Beigeschmack von Provinz oder den vermeintlich kosmopolitischen Glamour der Urbanität entscheiden. Dass die Skandinavischen Länder in mannigfaltiger Weise anders sind als der kontinentale Rest Europas, schlägt sich nicht nur durch die jüngsten PISA Studien nieder. Irgendwo las ich mal einen mehr als bezeichnenden Kommentar, der besagte, dass die Deutschen im Jahr durchschnittlich 16 Euro, die Briten rund 88 Euro für Popmusik ausgeben. In Norwegen herrschen vermutlich britische Verhältnisse und dies zu Recht. Das reichhaltige Angebot an beängstigend guten norwegischen Produktionen - Turbonegro, Motorpsycho, Röyksopp und Jaga Jazzist hier nur mal exemplarisch aufgeführt - sprechen Bände. Dies ist jedoch auch von Seiten des Staates durch Subventionierung von jungen Talenten gefördert. Nicht nur, dass die norwegische Gesetzgebung von jeder Gemeinde fordert, Kindern Kunsterziehung anzubieten, auch die vorbildliche Infrastruktur bietet jungen Künstlern direkte Unterstützung etwa in Form von Tournee, Transport und Produktions Subventionen. Der norwegische Kulturrat deckt zum Beispiel zwischen 60 und 75% der Kosten bei den größeren Konzertveranstaltungen im Land. Und dies sind jährlich über 300. Vor diesem Hintergrund ist es selbstverständlich nicht schwer zu erahnen, dass ein enormes Netzwerk innerhalb der Kulturszene Norwegens existiert, und immer wieder Bands das europäische Ausland erreichen und Euphorie und Begeisterung hinterlassen. Oder, um einen anderen Erklärungsansatz neben diesem und dem Eingangs erwähnten für das Phänomen der skandinavischen Exklusivität im Allgemeinen, und Cloroform im speziellen, von der Band selbst zu nutzen: "Just three white kids from Rogaland / Have come to play in your town / I came to get down, I came to get down / White trash / We are the losers / Roll on, roll on, white trash / We'll rock your shit up you all" (Coming Over)

Von Kaadas eindringlichen Clavinet Melodien und Sample Arrangements über Storesunds unbeirrbaren Kontrabass Läufen bis zu dem unbeugsamen Rhythmen von Schlagzeuger Fjordheim, sowie dem oft mehrstimmigen Gesang, welcher sich besonders auf dem aktuellen Album "Cracked Wide Open" manifestiert, kreiert das Trio einen unverwechselbaren, selbstironischen Stil, der wohl selten seines Gleichen finden wird. "What a great pleasure it is, to hear music such as this" (R. Krautheim, Concussion Magazine).
foto: nina solheim

cloroform
"hey you, let's kiss"
kaaa records 2003 cd

cloroform
"cracked wide open"
waggle daggle 2005 cd

cloroform