Broken Social Scene [Broken Social Scene]

Drowned in sounds.
Mit jedem Durchlauf des neuen Albums des vermeintlich dysfunktionalen kanadischen Band Kollektives nährt man sich ein wenig diesem wunderbaren Schwebezustand, den die Broken Social Scene mit ihrem Wall of Sound Wunderwerk heraufbeschwört.


"if you always get up late, you never gonna be on time."
(swimmers)

"Here’s a theory for you to disregard completely. Music, True music, not just Rock 'n' Roll. It chooses you." So weiß der große Rock Kritiker und Berufszyniker Lester Bangs alles zu erklären. Jedenfalls wenn man Cameron Crowe glauben schenken möchte, der ihn diese Worte in seinem Film "Almost Famous" sagen lässt. Aber es ist ein spannender Ansatz, eine Erklärung dafür, weshalb sich manche Menschen bemühen können, aber ihnen dennoch der Zugang zu den wirklich großen Stücken dieser Welt auf ewig verwehrt bleiben wird. (Um es mit Nick Hornby zu sagen: "Ich war schon ein Musiksnob, bevor ich mich damit auskannte".)

Our Faces Spilt The Coast In Half lautet der erste Titel des Albums und ist damit gleichwohl sperrig wie ehrlich. Sie werden die Hörerschaft mit diesem Album teilen. Der, ob der gleichgeschalteten, maroden Medienstruktur desillusionierte Hörer muss sich vielleicht das ein oder andere Mal bemühen, muss dem Album vielleicht einen zweiten, dritten, fünften oder achten Durchgang gewähren, muss sich vielleicht darauf einlassen, sich das Album zu erarbeiten. Und dann beginnt man die Platte ganz unprätentiös zu lieben. Für alle anderen wird sich die Frage wohl nie erklären, was sie hier mit der Broken Social Scene verpasst haben.

"Windsurfing Nation" sollte sie bis kurz vor Veröffentlichung noch heißen. Ein Name der unweigerlich an die stilprägende Sonic Youth Veröffentlichung "Daydream Nation" von 1988 erinnert, mit der man sich jedoch nicht anmaßen möchte verglichen zu werden. Stattdessen ruht man in sich selbst, verleiht dem dritten Album den eigenen Namen und setzt damit zugleich ein Statement.

Das große Name Dropping, was der Supergroup aus Mitgliedern von Do Make Say Think, den Stars, Feist, Apostle Of Hustle, den Weakerthans oder den Dears unschwer möglich wäre, steht im Hintergrund, ist nicht von tatsächlicher Bedeutung. Wenngleich die involvierten Musiker auch verlorene Vokabeln sein könnten, Koordinaten, mit deren Hilfe man die Musik greifbar machen möchte. Auch auf diesem Album erscheint es, wie schon auf dem schier alles ausschöpfenden Vorgänger "You Forget It In People", als hielte man ein wunderschönes Mixtape in den Händen, so wenig homogen erschienen damals zunächst die Stücke. Dennoch ist dieser überbordende, verschwenderische Umgang mit Stilen und Attitüden, vom knisternden LoFi, über symphonische Klangcollagen, von fragilen Popperlen bis zu instrumentalen Postrock Arrangements, allesamt in leuchtenden Klangfarben gemalt, ist die Vielheit der eigentliche rote Faden im Werk der Band. Dieser Zusammenhalt in der Vielheit, diese Momente, in denen alles so erscheint, als würde es gleich auseinander brechen, als hielt ein Kind so viele Glasmurmeln in den Händen wie es zu tragen vermag, sich dann aber doch beugt, um diese eine weitere bunte Kugel aufzunehmen und so unschuldig kindlich alles aufs Spiel setzt; in diesen Momenten ist die Band am stärksten, hadert sie an der Perfektion ohne zu scheitern. Immer wieder wähnt man sich in dem Gefühl zum Mark eines Songs vorgedrungen zu sein, ihn festhalten zu können, nur um kurz darauf wieder verwundert einen Schritt zurück zu machen, und sich ein weiteres Mal überraschen zu lassen.

Die Fäden für diesen sperrigen Meilenstein hielt Produzent David Newfeld in den Händen, obgleich er die Band ein ums andere Mal zum straucheln brachte, erklärt Kevin Drew. Wie ein penibeler Phil Spector arbeitete dieser versessen an den Spuren, bis am Ende diese opulente Großtat zum Vorschein kam. Man habe wenig gemeinsam an den Stücken gearbeitet, viel mehr sei es so gewesen, dass einzelne Mitglieder immer wieder ins Studio kamen, um an ihren eigenen Spuren, ihren Bestandteilen des Panoptikums zu arbeiten. Aus dieser ausschweifenden Fülle an individuellem Teilzeitenthusiasmus entstand jedoch keine vielköpfige Hydra, verdarben viele Köche nicht den Brei, sondern ergänzten sich die Klanggebilde zunehmend zu eben jener kollektiven Vielheit. Wie die Mitspieler eines Exquisite Corpse, dem spielerischen Geschichtenschreiben der intellektuellen Surrealisten, bei welchem jeder die Geschichte des Vorgängers durch seine eigenen Gedanken ergänzt und weiterführt ohne das Gesamtwerk vor Augen zu haben, entfalteten sich die üppigen Kompositionen. Immer wieder kann man beim Hören diese kleinen Spannungen nachempfinden, diese Augenblicke, wenn sich das Stück nicht recht zu entscheiden weiß, in welche Richtung es sich entfalten will. Und immer wieder entdeckt man neue Details die so hingebungsvoll, so ergiebig sind, dass sie immer aufs Neue zu begeistern, zu verwunden wissen. Wenn sich Leslie Feist’s Stimme etwa den Weg durch Gitarrenwände bahnt, wenn sich die Bläsersektion über einem brodelnden Gewitter von burlesken Klangeskapaden erhebt oder wenn einer Geige im Hintergrund fast unbemerkt vereinzelte Töne entlockt werden. Versunken in Klang. Ein leises Knacken im Hintergrund, eine scheppernde Snare Drum, Geräusche, die sich bei der Aufnahme ergaben und die andere Bands peinlichst genau zu retuschieren versuchen, werden hier zu Charaktermerkmalen, zu Wesenszügen der einzelnen Stücke. Souverän bewegen sich Broken Social Scene zwischen exzentrischen Mini Epen und diffusen Soundfragmenten von weniger als einer Minute Dauer. Wie Finish Your Collapse And Stay For Breakfast - wieder einer dieser wunderschön skurrilen Titel – das sich wie sonniges Morgenlicht im Schlafzimmer entfaltet nur um Sekunden später wieder zu verschwinden. Broken Social Scene begnügen sich nicht einfach damit Musik zu machen, sie wollen wahre Musik machen. Musik, die gewaltige Landschaftsbilder vor deinem geistigen Auge abbilden will, die in deinem Auto, in deinen Kopfhörern oder in dir lebt, wenn du allein bist. Sie wollen Musik machen die dich erwählt. Das ist Alles, nur nicht Easy Listening
foto: debra friedman


broken social scene
"broken social scene"
arts&crafts / city slang 2005 cd / lp
broken social scene