Tracker [Blankets]

In the novel's simplicity belies its beauty.
Die gleiche Schlichtheit überzeugt auch bei dem vorliegenden Album der Band Tracker, mit welchem sie der atemberaubenden Graphic Novel Blankets einen gefühlvollen Soundtrack gewidmet haben.



"und der gefallene schnee heißt den fallenden schnee mit einem leisen 'sshh' willkommen."
(craig, blankets)


Die Geschichte des Soundtracks geht zurück bis zur Stummfilm-Ära und zur Erfindung des Mediums Films an sich. Was heute ein recht unüberschaubarer Markt an Veröffentlichungen ist, ein Geschäft welches jeder Filmverleih gern tätigt, waren früher Kompositionen welche direkt während einer Filmvorführung eingespielt wurden. Während man heute jedoch zumeist auf bekannte Stücke unterschiedlicher Künstler zurückgreift, hat sich in den letzten Jahren auch die eine oder andere Band an die komplette musikalische Untermalung eines Filmes gewagt.

Eine ganz andere Art Soundtrack haben Tracker aus Portland mit ihrem dritten Album vorgelegt, dass bisweilen hier zu Lande noch keine breiten Wogen geschlagen hat. Von einem Comic so sehr fasziniert, wollte man das Album als eine musikalische Hommage verstehen. Den Soundtrack zu einem Comic zu schreiben klingt jedoch nicht mehr so waghalsig und kindisch, wenn man sich das Buch um welches es sich dreht tatsächlich angeschaut hat. Selbstverständlich haben Comics in den Vereinigten Staaten, vereinzelt dem europäischen Ausland und im asiatischen Raum einen anderen Stellenwert als in Deutschland; dort hat man die vermeintlich als Hybriden zwischen Literatur und Malerei verortete sequentielle Kunst - welche unlängst als Neunte dem Kanon der bildenden Künste hinzugefügt wurde - in langer Tradition aus den Kinderzimmern geholt und bisweilen sogar erfolgreich auf der großen Leinwand adaptiert. (Wobei ich hier weniger auf die Superhelden Sagen aus dem Hause Marvel und DC, als viel mehr auf preisgekrönte Filme wie "Ghost World" – in der Comic Vorlage von Daniel Clowes - oder zuletzt "American Splendor", der biographischen Hommage an Comic Autor Harvey Pekar verweisen möchte).

Der 29-jährige Amerikaner Craig Thompson hat in seinem zu Recht mit Preisen und Auszeichnungen überhäuften Werk "Blankets" nicht nur seine Autobiographie auf höchst anspruchsvolle Art und Weise umgesetzt, sondern auch eine persönliche Verarbeitung spannungsgeladener, zeitgeschichtlicher Thematiken. In ausdrucksstarken und einnehmenden schwarz-weiß Bildern erzählt es die Geschichte eines Jungen der als Sohn fundamentalistischer Baptisten im mittleren Westen der Vereinigten Staaten aufwächst. Im schneebedeckten Wisconsin durchlebt er Kindheit und Jugend geprägt durch seinen herrischen Vater, den bigotten Gemeindemitgliedern und den Misshandlungen und Spott von Mitschülern und Babysittern. Aber es craig, raina ist auch die Erinnerung an eine erste Liebe, die viel in dem jungen Mann von damals bewegt hat, die es forderte sich mit seiner früh ankonditionierten Angst vor Sünde auseinanderzusetzen. Kaum ein Werk ganz gleich welchen Mediums versteht es so einfühlsam und sensibel die Euphorie des Verliebens und der bedingungslosen Leidenschaft zu beschreiben, und so prägnant und ehrlich die Trauer und Leere an deren Ende zu illustrieren. Gerade der Comic, mit seiner induktiven Herausforderung an den Leser, lässt diesen noch viel mehr mit dem Erzähler verschmelzen, und sowohl die Freude als auch dessen Schmerz zu teilen.

"Mein Freund John Askew hat mit seiner Band Tracker ein Album aufgenommen", erklärt der in Interviews meist als zurückhaltend und schüchtern beschriebene Thompson, "zu welchem ihn Blankets inspiriert hat". Tatsächlich ist dieses Album mit dem Untertitel "Recordings for the illustrated novel Blankets" versehen, und die elf fast ausschließlich instrumentalen Stücke schaffen es, die meist melancholische aber immer wieder verspielt und hoffnungsfrohe Atmosphäre des Buches einzufangen. So bewegen sich die Stücke zwischen introvertierter Unaufdringlichkeit und koketter Lebensfreude und bleiben dabei abstrakt genug, um nicht nur in Verbindung mit dem Comic zu überzeugen, auch wenn sie nach oder während der Lektüre die Bilder im Kopf des Betrachters zu verstärken wissen. Selbst die spielerischen Soundeffekte, wie der das Stück (We Were) The Trees begleitende Wind verleihen den Songs zahlreiche intime Momente, ohne dabei aufgesetzt zu wirken.

Hinter der Band Tracker steckt maßgeblich besagter John Askew, der sich neben der eigentlichen Band noch weitere befreundete Musiker – etwa Decemberists Gitarist Chris Funk - für die Umsetzung seiner Ideen einlud, was dazu führte, dass Instrumente wie Slide Guitar, Bläser, Akkordeon, Orgel oder ein Xylophone auf den Stücken vereint sind. Die Melodien sind frei genug gehalten, um jedem Instrument genügend Raum zum entfalten zu geben, und sich irgendwo zwischen zärtlichen Folk Songs und melancholischen Popanleihen zu bewegen.

Die fesselnde Schlichtheit, die Thompsons Zeichnungen zugrunde liegt, konnte man auch auf die Musik übertragen, konnte die malerische Schönheit der jugendlich irritierten Zuversicht vertonen. Und dies obwohl die Musik zu einem Buch nicht mit den Stilmitteln eines eigentlichen Soundtracks arbeiten kann; filmische Szenen zu untermalen bedeutet auch immer, sich an den zeitlichen Ablauf dessen halten zu können. Bücher hingegen liest jeder Mensch auf eine andere Weise, so dass die große Kunst – welche Tracker hier zweifelsohne gelungen ist – darin liegt, die Stimmung des Werkes einzufangen und in ihrer Vielfalt in jedem einzelnen Moment zu verorten. Am Ende von Thompsons Geschichte schreitet er ein weiteres Mal durch den gefallenen Schnee, sich seine Spuren ansehend, und stellt fest, "wie befriedigend es ist, ein Zeichen auf einer leeren Oberfläche zu hinterlassen. Eine Karte meiner Bewegung, egal wie vergänglich." Und so tritt auch John Askew nach den zehn vorangegangenen Stücken einen Schritt nach vorn, und beginnt im letzten Song überraschend zu singen, um so dem Album mit der Zeile "Everything is beautiful", einen angemessenen Abschluss zu bescheren.
foto: tracker



tracker
"recordings for the illustrated novel blankets"
film guerrero 2007 cd
tracker

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The Wedding Present [Take Fountain]

Herzschmerz und große Melodien.
The Wedding Present machen deutlich, wie eine Trennung als Quelle der Inspiration zu wunderschönen Popsongs führen kann, ohne in das tiefe Tal der Depression hinabsteigen zu müssen.


"but how can i just shake his hand, when it has been all over your skin?"
(mars sparkles down on me)


Normalerweise sind neue Veröffentlichungen von Bands, die schon eine fast zwanzigjährige Bandgeschichte hinter sich haben und seit Längerem nichts von sich hören ließen, nicht mehr als Nostal-gieveranstaltungen. Nicht so The Wedding Present. Zugegebenermaßen ist der Autor mit der musikalischen Vergangenheit von David Gedge und Anhang nicht vertraut und so ist dieses Album von ihm nicht in einem musikalischen Kontext zu verorten. Doch "Take Fountain" klingt jung und frisch, es könnte ein Debütalbum sein. Bezeichnend dafür mag sein, dass aus der Gründungszeit von The Wedding Present nur Simon Cleave übrig geblieben ist und Gedge sich ansonsten im Laufe der Zeit mit neuen Musikern umgeben hat. Es ist nicht von einem anachronistischen Sound geprägt, der vergangene Zeiten heraufzubeschwören sucht, vielmehr wird die Auseinandersetzung mit der Gegenwart gesucht, auch wenn gleich zu Beginn dem Altmeister in Sachen Spaghettiwestern-Soundtrack gehuldigt wird.

Die gleichförmige Atmosphäre des etwas öden, weil auf der Stelle verharrenden Intros, wird jäh durch eine Gitarre unterbrochen, die mit Interstate 5 ein Stück von epischer Breite einleitet. In über acht Minuten wird in der Extended Version ein Spannungbogen mit hypnotischen Gitarrenklängen und angedeutetem Streicherteppich in linearer Weise aufgebaut, der sich anschließend in einer Western-Allegorie bricht, die Ennio Morricone alle Ehre gemacht hätte. Und so zeichnen die Engländer The Wedding Present ein amerikanisches Roadmoviebild, welches ebenso wie bei Morricone einen unwillkürlich europäischen Touch annimmt. Es ist zwar der einzige Song von solch einer monumentalen Kraft, dennoch steht er für genau das, was dieses Album ausmacht. Eine starke Melodielinie eingebettet in einen eindringlichen Sound, der dem Hörenden atemlos zurücklässt.

"When the one thing that you most adore is just about to walk out of the door". Ausgangspunkt des Albums ist der Schmerz über die Trennung von Gedges langjähriger Freundin und musikalischer Weggefährtin Sally Murrell, mit der er von 1998 bis 2002 unter dem Namen Cinerama drei Alben veröffentlichte, und sein darauf folgender Umzug nach Seattle. Die dort entstandenen und in Chicago sowie Seattle von Producer Steve Fisk aufgenommenen Songs sind von Trauer und Schmerz beherrscht, Gedge blickt mit Wehmut auf gegangene Tage zurück, das Verarbeiten seiner gescheiterten Beziehung zieht sich durch das gesamte Album. Dennoch scheint ein helles Licht durch die Songs hindurch, besonders Always The Quiet One und I’m Further North Than You vermitteln eine Leichtigkeit, die den besungenen Liebeskummer angenehm abfedert, anstatt ihn tief in der Magengrube versinken zu lassen.

"Anyway your eyes confirm what I already knew more than all your words could ever do." Unbeschwert führt das Gitarrenspiel in Don’t Touch That Dial ein und stellt einen starken Kontrast zum niedergeschlagenen Gesang Gedges dar. Immer stärker rückt der Verzerrer in den Vordergrund um Freiraum für Wut zu schaffen, die es zu kanalisieren gilt. Eine voluminöse Schrammelwand wird aufgebaut, die nach dem Zenit wieder in das lockere Gitarrenspiel abfällt, um von einem Piano unterstützt zurück in die Stille zu gleiten.

The Wedding Present verstehen es, sich auf vielfältige Art und Weise auszudrücken, ohne dabei beliebig zu wirken. Immer wieder werden mal sanfte mal ruppige Gitarrenwände aufgebaut, die anstatt einer verzweifelten Depression Platz für eine nachdenkliche Traurigkeit schaffen, die in einen durchsichtigen Schleier von Erinnerungen gehüllt ist. Dies endet zuweilen in fast schon hymnischen Klängen wie bei Queen Anne. Zunächst werden minimalistisch anmutende Klänge von weiten Streicherteppichen, angedeutetem Chorgesang und treibenden Gitarren abgelöst. Doch endet das gerade einmal vierminütige Stück wie bereits Interstate 5 in einer westerngleichen Atmosphäre die von Gitarre und einer einsam klagenden Trompete beherrscht wird.

"The more you smile the more I know that I’ll never make you sad." Bei all der Melancholie und tiefen Traurigkeit, die sich wie ein roter Faden durch das Album spannt, wird mit Perfect Blue ein positiver Schlusspunkt gesetzt. Ein hymnenhafter Popsong, der sich über die ganze Weite des musikalischen Raums ausbreitet und den endgültigen Beweis für die Behauptung darstellt, David Gedge gehöre zu den absoluten Größen des Pop. Oder um es mit John Peels Worten zu sagen: "The boy Gedge has written some of the best love songs of the Rock’n’Roll era. You may dispute this, but I’m right and you’re wrong!"
foto: select magazine, may 1992



the wedding present
"take fountain"
stickman records 2005 cd/lp
the wedding present

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Alexander Payne [Sideways]

In Vino Veritas.
Alexander Paynes Oskar prämierter Film Sideways begleitet zwei Mitvierziger auf ihrer Reise durch die Weinanbaugebiete Kaliforniens und zu sich selbst.


"if anybody orders merlot, i'm leaving. i am not drinking any fucking merlot!"
(miles raymond)

In einem schäbigen Saab bestreiten die beiden zwar hoffnungsfrohen doch leider gänzlich unglücksseligen Protagonisten Miles (Paul Giamatti) und Jack (Thomas Haden Church) eine kleine Odyssee durch das Wine County in der Peripherie von Los Angeles. Sieben Tage wird sie dauern, diese Junggesellentour, an denen die beiden Collegefreunde gemeinsam die letzten Freiheiten genießen wollen, bevor am Samstag die Hochzeit von Jack stattfinden wird.

Jack ist ein abgehalfterter Ex-Serienstar, der gerade noch von Miles Mutter oder einer tumben Bedienung eines zweitklassigen Restaurants erkannt wird, und verdient heute sein Geld mit dem Sprechen von drittklassigen Werbespots. Dem liebenswerten Proll ist bewusst, dass er kein Gespür für Kultur hat, dennoch bemüht er sich, unter den gut gemeinten Ratschlegen seines langjährigen Collegefreundes Miles zu wachsen. Mit geringem Erfolg. Während der neurotische Pedant Miles, ein unzufriedener Mittelstufen Englischlehrer und verhinderter Autor, den Ausflug als einen anspruchsvollen Kulturtrip für Jack geplant hat, fallen dessen Absichten weit profaner aus; er möchte in diesen letzten Tagen die Sau raus lassen. Ein letztes Mal. Die beiden gegenläufigen Ansichten können zunächst parallel vereinbart werden, doch im Laufe der Reise müssen sich die beiden Fortysomethings arrangieren. Jack bandelt mit der Kellnerin Stephanie (Sandra Oh) an, und hat deren Kollegin Maya (Virginia Madsen) für Miles auserkoren, damit auch dieser endlich wieder einmal flachgelegt wird. Während Miles über ungenießbaren Merlot schimpft, gelingt es Jack recht schnell die allein erziehende Stephanie von sich zu überzeugen.

Der Film bewegt sich weitestgehend ohne großes Spektakel und lässt die Charaktere der beiden Hauptdarsteller mit jeder Szene an Tiefe und Vielfalt gewinnen. Alexander Payne gelingt mit Sideways eine selten schöne und bisweilen slapstikhaft komische Charakterstudie, die jedoch die festgelegten Verhaltens- und Gesellschaftsregeln nicht von der Hand weisen kann, denen die Charaktere unterstehen.

Nicht zuletzt das bestehlen seiner eigenen Mutter an deren vorverlegten Geburtstagsfeier wirft ein schlechtes Licht auf den blasierten Miles Raymond. In der Tat ist das erste was man von ihm erfährt, wie er seine Freunde am Telefon belügt. Gerade mit dieser Darstellung des Miles gelingt es Paul Giamatti den Zuschauer schon nach kurzer Zeit für sich zu gewinnen. Es ist rührend dem verletzlichen, und vom Leben enttäuschten Mittvierziger beim Straucheln am eigenen Dasein zuzusehen, und seine wenigen ehrlichen Momente verweigern es dem Zuschauer, ihm seine mürrische Art nicht zu verzeihen. "Die Hälfte meines Lebens ist vorüber", konstatiert er, "und ich habe nichts vorzuweisen. Gar nichts. Ich bin ein Fingerabdruck auf dem Fenster eines Bürogebäudes". Seine Liebe zum Wein, zu dieser erlesenen Kultur die sich hinter ihm verbirgt, und welche er in seiner Welt so kläglich vermisst, scheint der einzige Halt zu sein, der ihn aufleben lässt. So ist es nur selbstverständlich, dass er, wenn er über die Verletzlichkeit der Pinot Noir Trauben sinniert, darüber, wie wenig selbstständig sie sich entfalten können, auch metaphorisch über die Verzweiflungen in seinem Leben spricht. Das Schicksal meint es jedoch nicht gut mit ihm, so ist der Wein ironischer Weise auch seine Nemesis; nur selten trinkt er wenig genug davon, um nicht berauscht die letzten Bestrebungen an Kontrolle über sich selbst zu verlieren. Nach der Scheidung von seiner damaligen Frau vor zwei Jahren, und der daraus resultierenden kontinuierlichen therapeutischen und medikamentösen Behandlung, scheint er mit den Frauen abgeschlossen zu haben, immer noch unfähig darüber zu sprechen. Und ganz langsam muss er verstehen, dass er in der Gegenwart von Maya zu der besten Version von sich selbst heranreift.

Doch auch der zwar selbstbewusste doch schier grenzenlos oberflächliche, alternde Sunnyboy Jack wird im Laufe dieser Reise an Erkenntnis gewinnen und seine Katharsis erleben. Auch wenn es für ihn weitaus schwerer fallen wird, aus seiner allenfalls Testosteron gesteuerten Sicht der Dinge herauszutreten, um sich letzten Endes doch seiner vorherbestimmten Rolle zu fügen.

Alexander Paynes Talent liegt tadellos darin, sich auf seine Stärken zu konzentrieren, und dem Film durch die Charaktere Glaubhaftigkeit und Esprit zu verleihen. Nicht zuletzt auch aufgrund des fabellosen Jazzsoundtracks von Rolfe Kent. Auch nach seinem 2002er Erfolg "About Schmidt" erscheint der Regisseur immer wieder als Gegenbeispiel für den oberflächlichen Glanz Hollywoods. Der Regisseur sieht seine Wurzeln in den amerikanischen Produktionen der Siebziger Jahre, in denen es noch gute Filme über Menschen gab, wie er sagt. Filme in der Tradition von Hal Ashby’s "Shampoo" oder Michael Ritchie’s "Smile". "Ich glaube an die Intelligenz des Publikums", erklärt Payne im Interview mit der Welt. "Ich reagiere nicht auf Trends, ich versuche nicht, subversiv zu sein. Meine Vorstellung von einem erwachsenen, guten Film hat sich bloß nie verändert. Ich möchte, dass solche Filme ganz normal in die Kinos kommen, damit sie Teil unserer populär Kultur werden."

Was Nick Hornby für die Musik schuf, gelang in Sideways Alexander Payne für die Weinkultur. Jenseits von snobistischen und elitären Allüren, widmet der Regisseur dem Wein eine liebevolle Hommage, welche vor allem in dem kurzen Monolog von Maya seine Entsprechung findet; "Ich denke gern darüber nach, dass der Wein lebt. Ich meine er atmet. Ich denke gern darüber nach, was in dem Jahr alles los war als die Trauben gewachsen sind. Wie zum Beispiel die Sonne schien, ob es geregnet hat. Ich denke gern darüber nach, wie die Menschen ihn gepflegt haben, wie sie die Trauben pflückten. Und wenn es ein alter Wein ist, wie viele von den Menschen inzwischen gestorben sind. Es gefällt mir, wie sich der Wein immer weiter entwickelt. Wenn ich zum Beispiel heute eine Falsche öffne, schmeckt sie ganz anders, als sie an einem anderen Tag schmecken würde. Ich meine, wein ist etwas, das tatsächlich lebt. Und er entwickelt sich ständig weiter, wird komplexer. Und dann erreicht er seinen Höhepunkt. So wie dein 61er. Und dann fängt er an zu verfaulen. Er wird müder und schwächer. Und er ist so verdammt lecker."
foto: 20th century fox


alexander payne
"sideways"
2005

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The Good Life [Giessen, 02.02.2005]

It's different, when you're desperate.
In veränderter Live-Besetzung zeigen The Good Life, dass ihre Musik nicht nur in 1:1 Übertragung vom Studio auf die Bühne funktioniert.


"i wrote these songs to fulfill a story."
(tim kasher)

Dass Clubs in Industriegebieten liegen, wo sich abends kein Nachbar gestört fühlt, ist durchaus nicht ungewöhnlich. Selten jedoch liegen sie irgendwo in der Nähe der Autobahn, fernab von jeder nachtaktiven Zivilisation. Das MuK in oder besser gesagt bei Giessen ist so ein Club. Zwischen einer Reihe Autohäuser jüngeren Jahrgangs steht das Gebäude, das einem alten Bauernhof nicht un-ähnlich ist und dessen Adresse sinnigerweise den romantischen Namen An der Automeile trägt. Das Innere wirkt gemütlicher als die Umgebung, auch wenn es ein wenig an Sitzgelegenheiten mangelt.

Den Abend im mäßig gefüllten Veranstaltungs-raum eröffnen The Velvet Teen aus Kalifornien. Der Sound ist gewöhnungsbedürftig, wobei dies weniger am Mischer sondern eher an der Band liegt. Sie spulen ihre Songs zwar mit einer gewissen Abgeklärtheit herunter, dabei klingen sie allerdings, als wären sie gerade erst dem Proberaum in der elterlichen Garage entsprungen. Eine American Standard Band sozusagen, die musikalisch mit hohem Tempo durch das dreißigminütige Set düst, aber dennoch einfallslos vor sich hindümpelt und allenfalls durch die körperliche Aktivität des Sängers auf der Bühne ein wenig Energie vermitteln kann. Letzterer zeichnet sich zudem durch einen hohen Alkoholpegel aus, durch welchen seine Ansagen kaum noch verständlich sind. An jeden Satz hängt er ein immerhin klar artikuliertes "Fuck It!", dessen Sinn sich dem Publikum jedoch nicht so recht erschließen will.

Ganz anders The Good Life. Vom ersten Moment an besticht Frontmann Tim Kasher durch seine unheimlich starke Bühnenpräsenz, die den ganzen Raum zu erfassen scheint. Bassistin Stefanie Drootin hingegen ist nicht anwesend, da sie sich gerade mit den Bright Eyes auf US-Tour befindet. Erst vor dem zweiten Song schleicht sich Ersatzmann Dan Brennan auf die Bühne, um seinen Platz in der zweiten Reihe hinter den festen Bandmitgliedern einzunehmen. Symbolhaft mag zunächst diese Geste erscheinen, doch fügt er sich musikalisch wie auch optisch gut in die Band ein. Paradoxerweise ist es gerade Tim, der frisch rasiert die Bühne betritt, während die restliche Band die Gesichtsbehaarung in Grandaddy Ästhetik spriessen lässt. Zudem scheint der Dresscode, dem sich nur Schlagzeuger Ryan Fox entziehen kann, Hemd und Krawatte vorzuschreiben. Tim sucht immer wieder die Blicke des Publikums und bleibt selten einen Moment lang ruhig stehen. Es ist nicht zu übersehen, dass er nach einer auskurierten Erkältung wieder voller Energie ist, die er gewillt ist, auf der Bühne einzusetzen.

"You never fell for me, you fell for how it felt." The Good Life verzaubern das Publikum. Sie spielen ihr Set zwar mit ungeheurer Routine, sie sind Musiker die etwas von ihrem Handwerk verstehen. Doch es gelingt ihnen gleichzeitig, die Zuhörer zu verzaubern, sie binden sie emotional in ihre Stücke ein. Tim wirkt dabei wie ein Sprachrohr zwischen Band und Musik auf der einen und dem Publikum auf der anderen Seite. Während die restlichen Mu-siker manchmal völlig versunken und auf ihre primäre Aufgabe konzentriert zu sein scheinen, kommu-niziert er mit dem Publikum auf unglaublich einnehmende und char-mante Art und Weise. Sein Gesang ist eindringlich, er spannt immer wieder seinen gesamten Körper an, der unter dem überwältigenden Druck der Musik zu verkrampfen scheint. Dabei wirkt seine Stimme bedeutend mächtiger und füllender als auf Tonträger.

Stefanies Abwesenheit nimmt jedoch ein wenig von der Ausgeglichenheit, die dem aktuellen "Album Of The Year" durch das stimmliche Gegengewicht zu Eigen ist. Auch wird durch fehlende Bläser manchem Stück wie Under A Honeymoon oder You’re No Fool ein Teil ihrer markanten Charakteristik genommen. Dies wird allerdings durch die unglaubliche Eindringlichkeit und die Intensität des Zusammenspiels ausgeglichen. Beim Titelstück des "Album Of The Year" wird schließlich auch phasenweise mitgesungen, das Publikum lässt spätestens ab diesem Moment die Musik Herr über ihre Gliedmaßen werden. Dementsprechend groß ist der Applaus nach etwas über einer Stunde. Die Band dankt es mit zwei Zugabeblöcken und einer sehr langen und berauschenden Version von You’re Not You, die Tim fast in Ekstase zu versetzen scheint. Zu guter letzt wird auch noch völlig unerwartet die Metal-Keule ausgepackt und Gitarrenhälse fliegen durch die Luft, als wollten sie sagen: "We decide to hold nothing back – We’ll act how we want to act".
foto: simon traut


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