Bilderdisko

Das Aufeinandertreffen von Lieblingsmusik und visueller Sprechweise steht bei der Kolumne Bilderdisko im Vordergrund. Unterschiedliche Künstler beschäftigen sich für uns mit einem Stück persönlicher Musikgeschichte und geben sich diesem gestalterisch hin. Das jeweilige Produkt, ob Einzelbild oder Sequenz, mit oder ohne Erläuterung, humoresk oder intim, bildet eine Schnittstelle zwischen musikalischer Sozialisation und aktuellem Schaffen.
illustration: human empire

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Kammerflimmer Kollektief [Kassel, 29.03.2005]

Bewegungen in der Zwischenwelt von Hier und Jetzt.
Die Ausnahme Musiker des Karlsruher Kollektiv beeindrucken mit ausufernden Melodiebögen und atmosphärischen alltags Beobachtungen.


"our music is no longer about notes, but about sounds."
(albert ayler)

"Das ist einer der langweiligsten Abende seit langem gewesen", gesteht mir die junge Frau hinter dem Tresen, kurz nach dem Abgang des Karlsruher Kammerflimmer Kollektiefs. Jedoch will sie damit weder den charismatischen Auftritt der fünf begnadeten Musiker, noch die eher spärliche Anwesenheit der rund vierzig Gäste im bestuhlten Konzertraum des Kasseler Schlachthofes kritisieren. "Die Musik war stellenweise so ruhig, fast meditativ, dass wir hier nebenan kaum wagten, ein Glas zu spülen oder miteinander zu sprechen." Sie wollte die Atmosphäre nicht zerstören, welche den kleinen Saal umgab. Während man vereinzelt an kleinen Tischen Rotwein und Zigaretten konsumiert, entfaltet sich ein Film Noir in den Köpfen der Gäste. Die Musik dazu liefert das Ausnahme Kollektiv aus Karlsruhe.

"Absencen". Der französische Ausdruck wird in der Medizin für eine Form des epileptischen Anfalls verwendet, bei welchem eine zehn bis dreißig Sekunden andauernde Bewusstseinsminderung mit nachfolgender Amnesie eintritt. Eine Abwesenheit des Präsenten, welche man auf eine mannigfaltige Weise auch bei den cineastisch choreographierten Stücken des Kammerflimmer Kollektiefs beobachten kann. Edmund Husserl, der 1938 verstorbene Philosoph, so erfahren wir aus dem Begleittext des Albums, verfasste zu seinen Lebzeiten eine Universalrezension, mit welcher sich das Kollektief identifizieren möchte; "Eine gewisse Mittelbarkeit der Intentionalität muss hier vorliegen, die ein Mit da vorstellig macht, das doch nicht selbst da ist, nie ein Selbst-da werden kann. Es handelt sich also um eine Art des Mitgegenwärtigmachens, eine Art Appräsentation." Mit diesen Worten wird nichts anderes als das verspielt Hintergründige deutlich, welches sich in den Stücken abzeichnet. "Augenblicke zwischen Wachsein und Schlaf, oder wenn man im Zug sitzt und aus dem Fenster guckt und dabei eigentlich an gar nichts mehr denkt. Oder wenn du in der Badewanne liegst und die Wassertemperatur wärmer ist als die des Körpers und man das Gefühl bekommt sich langsam aufzulösen", beschreibt es Thomas Weber, Gitarrist des Kollektivs.

Der oft fragile Klang, welcher den akustischen Instrumenten entlockt wird, breitet einen melancholischen Klangteppich aus, der sich manches Mal eskapistisch in Free Jazz Orgien verdichtet, ein anderes Mal zurückhaltend mit Lounge und Ambient Motiven kokettiert, oder sich countryesken Themen bedient und diese in orchestrale Filmmusiken ausufern lässt.

Der Kontrabass auf der rechten Seite der kleinen Bühne, erscheint wie eine anmutige und doch opulent arrangierte Requisite, würde er nicht von dem stilvoll ergrauten Johannes Frisch scheinbar zum leben erweckt. In einem alten, angestaubten Köcher bewahrt er seine Streichbögen auf, und bewegt das riesige Instrument mit fast zärtlicher Hand. Heike Aumüller sitzt entspannt vor dem alten Harmonium, und entlockt diesem die melancholisch späherischen Klänge, welche bereits die 1988 verstorbene Ikone Nico Päffgen verwendete. Hinter einem provisorischen Rack bedient Thomas Weber Knöpfe an Mixern und Sequenzern, lässt eine Gitarremelodie Schleife laufen, und befremdet sensibel die akustische Lautmalerei mit elektronischem Rauschen und Knistern. Er war es auch, der das Kollektief in den späten Neunziger Jahren formte. Damals noch als Ein-Mann Projekt, bei welchem er seine Stücke aus Samples arrangierte, wurde das Kollektiv für die Live-Performance auf die heute bis zu sechs Mitglieder ausgedehnt (Violinistin Heike Wendelin ist an diesem Abend nicht zu gegen). Eingängige Melodien - wie das wundervoll verträumte Mond, welches die Band als Zugabe spielt, nachdem sie eigentlich schon auf dem entspannten Weg zur Theke, gesäumt von andächtig, aber dennoch überzeugt applaudierenden Menschen sind - gehen mit Freestyle Dekonstruktionen einher, ohne dass man dies in Frage stellen möchte. "Alle arbeiten gemeinsam an einem Wohlklang, einer Hymnik zusammen, aber alle sind auch fähig, diese im nächsten Moment hemmungslos zu zerkratzen", erklärt man. Dieses Spiel aus weiten, getragenen Melodiebögen auf der einen, und den ekstatischen, freien Improvisationen der Instrumente auf der anderen Seite, lassen das Karlsruher Kollektiv als eine Ausnahmeerscheinung erstrahlen, die sich jenseits populärer Stile bewegt, jedoch in der Lage ist, ein aufgeschlossenes Publikum mit ihren transzendierten alltags Beobachtungen restlos zu begeistern. Bewegungen in der Zwischenwelt von Hier und Jetzt. "Realistische Eskapismen", sagt die taz. "Nach diesen strebt das Kammerflimmer Kollektief auch bei seinen Live Auftritten, und ihnen hat es mit den gebrochenen Hymnen auf 'Absencen' kleine musikalische Denkmäler gesetzt."
foto: marko kaplan


kammerflimmer kollektief
schlachthof kassel

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Favez [Old & Strong In The Modern Times]

Gentlemen, start your engines. Again?
Die Schweizer Favez sind bei ihrem fünften Album angekommen, und besinnen sich mal wieder darauf, alles beim alten zu belassen. Eben alt und stark in der modernen Zeit.



"it started out with a bang, my friend, it almost ended up in tears."
(looking for action)


Die Albumtitel der seit '99 bei dem ehrwürdigen Stickman Label in Hamburg unter Vertrag stehenden Favez lesen sich wie Hinweise in einem Inhaltsverzeichnis. "A Sad Ride On The Line Again", das melancholische, rein akustische Debüt, wurde von "Gentlemen Start Your Engines" gefolgt, welches nichts weiter als eine offensichtliche Anweisung für dieses elektrisch verstärkte Rockalbum war. "From Lausanne, Switzerland" sendet Grüße aus der Heimatstadt in einer deutlich aggressiveren Schreibweise und wurde 2003 von "Bellefontaine" gefolgt, betitelt nach dem Studio von Bassist Yvan Lechef in der Bellefountaine Avenue. Die Überschrift lautete weiterhin Rock, am besten in Großbuchstaben, und dies lässt sich auch bei Veröffentlichung Nummer fünf nicht abstreiten.

Für die Arbeiten an "Old And Strong In The Modern Times" reiste man in ein kleines Studio mit Meerblick in Sant Feliu, Spanien, jedoch nicht ohne eine gewisse Anspannung. Während der Vorbereitung zum neuen Album steckten die Herren in einer Krise, getragen durch Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Materials und einer daraus resultierenden Zerrüttung. Niemand will sagen, dass sie kurz davor standen sich aufzulösen, aber ein nicht abzusehendes Verhängnis zeichnete sich ab. "Wir wollten nicht auf Studio Tricks angewiesen sein, sondern ein destyled Album machen", erklärt Chris Wicky. Gesang, Bass, Schlagzeug und Gitarren. Puristisch. Spanien half ihnen dabei, sich auf eben diese Arbeit, auf das wesentliche zu besinnen, und als Rockband wieder zu funktionieren. "Wir haben wieder miteinander gelacht", fährt er fort, "die Umstände waren einfach wunderbar. Wir haben das gesamte Equipment in einen kleinen Raum gestellt. Die Gitarren und der Bass überlagerten Stellenweise die Schlagzeug Mikrofone. Es herrschte eine relaxte Atmosphäre". Eine überraschende Wendung im theoretischen Gerüst der elf neuen Stücke ergab sich daraus, dass man das eigentliche Songwriting zu großen Teilen Yvan Lechef und Fabrice M., dem Bassisten und dem Schlagzeuger also, überlies, und somit ein Rhythmus betonteres Album entstanden ist.

Das klingt alles nach sehr ambitionierter Arbeit, und tatsächlich der Sound der neuen Stücke ist deutlich energischer und druckvoller als auf den letzten Alben. Das Dilemma von Favez, dieser unbeirrbar hart arbeitenden Live Band ist jedoch, dass man sich im Laufe der Zeit seit dem Debüt "A Sad Ride On The Line Again" - sieht man einmal von den vorherigen Veröffentlichungen unter dem Namen Favez Disciples ab - immer weiter in der kreativen Entfaltung eingeschränkt hat, und sich somit einer unausweichlichem Reproduktion gegenüber positioniert. "Old And Strong In The Modern Times" klingt nicht von ungefähr nach einem großväterlichen Begehren nach dem Status Quo in einer sich wandelnden Zeit. Veränderung zu den Vorgängern wird nur noch im Detail sichtbar. Favez scheinen ihr anfängliches Talent und Gespür für ideenreiches Songwriting, zu welchem sie spielerisch ohne Zweifel im Stande wären, dogmatisch selbst zurückzuhalten, es hinter das Anliegen bodenständigen Rock zu produzieren stellen, und bewegen sich so auf eine stete Wiederholung ihres Schaffens zu. Ein Schelm, wer dabei eine Analogie ersinnt, doch wie war das damals mit dieser britischen Band mit dem pragmatischen, unbeabsichtigt selbstironischen Namen Status Quo? Alles bewegt sich im sicheren Drei-Minuten-Rahmen, und eine Ausnahme, wie das elegische, letzte Stück des Albums, das wuchtige, mit Gitarrensoli überlagerte Ghost Of Winters Past, bestätigt lediglich die Regel. Der anständig verzerrte Bass und das polternde, mit verneigender Metal Geste gespielte Schlagzeug bieten die Grundlage, auf der sich die Gitarren austoben dürfen, und dies bei jeder Gelegenheit ausgiebig tun. Namen wie Guns 'N' Roses, Slayer und sogar ZZ Top werden im vertriebseigenen Magazin genannt. Damit greift man das prunkvolle Rockpathos auf, welches sich auch stellenweise durch die Texte zieht. "Well I'm a desolate winner and I'm looking for a place to go / I've got no wind and no sails and no good intentions anymore / I’ll get no heaven in return for this empy shell and when i get across the river / There'll be no one waiting down on the shore", singt da ein verzweifelter Lonesome Chris Wicky im Desolation Blues. Es geht um das Leben in einer Band jenseits der Dreißig, es geht um die Arbeit in einem Rock Club, um Bars und Liebe, sagen sie. Ein wenig amerikanischer Gestus, der sich da in der Eidgenossenschaft zu zeigen weiß. Solide Rockmusik. Nicht mehr, auch wenn Favez, beim ausschöpfen ihres Potentiales mehr zeigen könnten, als die kurzen Lichtblitze, die man mühsam in den neuen Stücken suchen muss.

"Das ist das Album, welches ich meinen Kindern einmal vorstellen werde, wenn sie mich fragen, weshalb ich niemals einen anständigen Beruf gelernt habe, wie all die anderen Väter, und vielleicht werden sie es verstehen, und mich nicht für all die Ski Ferien hassen, die sie niemals bekommen werden." Mit diesen Worten schließt Sänger und Gitarrist Wicky den eigenen Begleittext zum neuen Album, und man möchte ihm die leidenschaftliche Betrachtung des eigenen Werkes ja gönnen, aber man hofft, dass er sich, wenn die Zeit kommt, für ein früheres Album entschieden hat.
foto: favez



favez
"old & strong in the modern times"
stickman records 2005 cd
favez

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Beck [Guero]

The daytime crap of a folksinger slob.
Der zeitlose Multiinstrumentalist und smarte Jack-Of-All-Trades, prägte mit dem Stück Loser den Konsensgedanken einer vermeintlich ganzen Generation junger Amerikaner. Now, the times, they are a-changing.


"hell yes, i'm moving this way, i'm doing this thing. Please enjoy."
(hell yes)

Der milchgesichtige junge Mann sitzt unverkrampft am Tisch gegenüber, und doch scheint sich da eine gewisse Unsicherheit in seiner Mimik auszudrücken. Als Wunderkind bezeichnet zu werden ist zweifelsohne nicht gerade eine sonderliche Ehre, dennoch scheint dieser Ausdruck wie geschaffen für den Mitzwanziger, der in der letzten Zeit den Begriff Slacker neu definiert und für die Nachwelt als Archetyp geprägt zu haben scheint. Den überraschenden Fokus von sowohl Printmedien als auch dem Musikfernsehen hat er vor kurzem auf sich gezogen, als sein Stück Loser, ein wahnwitziger Hybrid aus Folk, Rock, Disko und Hip Hop, bemerkenswert unprätentiös zusammengehalten durch die nahezu gleichgültig dahin gedroschene Sprache des Antihelden. „Soy un perdedor“, lamentiert er da im Refrain auf Spanisch, „I’m a loser baby, so why don’t you kill me?“. Voller Ironie spielt er mit Zeilen wie „The daytime crap of a folksinger slob / He hung himself with a guitar string“ auf sich selbst und seine musikalische Entwicklung an. Der Öffentlichkeit scheint nämlich entgangen zu sein, dass „Mellow Gold“ nicht gerade als das Debüt des jungen Amerikaners betrachtet werden kann. Im gleichen Jahr veröffentlichte der musikalische Workaholic nämlich auch sein herrlich verschrobenes, weniger konsensfähiges und teilweise konzeptuell mit Hörspielversatzstücken arrangiertes Album „Stereopathetic Soul Manure“, sowie mit „One Foot In The Grave“ eines der besten Folk Alben, die Dylan niemals aufgenommen hat. Oder wie das Intro vermutlich sagen würde: Beck Hansens Basement Tapes. Und gerade mit dieser pessimistischen Selbsteinsicht erlangt Beck Hansen die Anerkennung, die ihm ohne Zweifel zusteht. Auch der spanische Ausdruck in besagtem Stück kommt nicht von ungefähr, ist Beck schließlich im Osten Los Angeles aufgewachsen, einem spanisch kultivierten Stadtteil, in welchem die Menschen in eher ärmlichen Verhältnissen aufwachsen. „Que onda Guero“, haben sie ihm nachgerufen, erklärt er. „What’s up, Whitey“. Er war der Guero im spanischen Viertel, der jedoch schon früh seine Eltern verlassen, und mit 19 zwei Jahre in Paris gelebt hat.

Der semi-rentable Erfolg des Stückes Loser verdichtet sich vielleicht in nächster Zeit, erlaubt er dem Multiinstrumentalisten auf jeden Fall mit dem ehrwürdigen Produzenten Duo Dust Brothers – den beiden Amerikanern Mike Simpson und John King – zusammen zu arbeiten, und das hier raus resultierende Werk – ein opulentes, zeitgeistig fokussiertes Folk Rock Hip Hop Konglomerat mit dem Titel „Odelay“ - wird ihn wahrscheinlich für alle Zeit als Ausnahmetalent etablieren. Ich habe bereits Stimmen gehört, welche Beck Hansen als den David Bowie der ausgehenden Neunziger Jahre beschreiben wollen. Vielleicht wird es ihm sogar gelingen - den Major Vertrag bei Geffen Records in der Tasche - sich als konsensfähiger Künstler im kurzlebigen Pop Geschäft zu behaupten, gleichzeitig jedoch seine Unantastbarkeit in der Auswahl seines Schaffens beibehalten zu können. Diesen Anspruch – Art Always Wins – hat er vermutlich grenzenlos eingeatmet, sind seine Mutter, die Teil Warhols Factory war, und besonders sein Großvater, der mittlerweile in Köln lebende Mitbegründer der Fluxus Bewegung, wichtige Bezugspunkte seiner Inspiration. Ambitioniert genug, als Künstler trotz des Vermarktungssystems autark zu bleiben, ist er ohne Zweifel. Unbedenklich kann man schon jetzt prophezeien, dass er ohne Frage das Talent hätte, sich nach „Odelay“ einer völlig anderen Stilrichtung zu öffnen. Eine melancholisch getragene Platte, die sich auf sein Singer/Songwriter Talent bezieht, erscheint ebenso möglich, wie wilde Disko Funk Soul Pop Verbindungen oder gar countryeske Klangbilder reinster Schönheit oder Arrangements mit seinem Vater, dem laudablen amerikanischen Komponisten und Dirigenten David Campbell, dem Beck wie aus dem Gesicht geschnitten zu sein scheint.

Vielleicht besinnt er sich nach all diesen innovativen, musikalischen Eskapaden auch wieder auf die Sample getragene, vielschichtige Simplizität der frühen Jahre, verbindet all jene Stile, die ihn während seines Aufwachsens in L.A. geprägt haben und setzt dann nach Jahren wieder dort an, wo er mit „Odelay“ angelangt sein wird. Man wird ihm für seine Verhältnisse vorwerfen, uninspiriert und rückständig gearbeitet zu haben, doch vielleicht ist das klassische Cut&Paste Motiv der Dust Brothers dann genau das, was er aus seinen Werken als Destillat hervorbringen möchte. So ursprünglich wie Zwei Plattenspieler und ein Mikrofon für den Hip Hop sind, könnte er auf seine eigene Ausgangsposition zurückkehren, und es sich zur Aufgabe machen, Songs vorzutragen, ohne sie artifiziell zu derangieren. Breitbandgitarren treffen auf staubtrockene Beats, verschrobene Steelgitarren, Mundharmonika Fetzen, Computer Blips und Bleeps und comichafte Frauenchöre bilden das Fundament, und das Wissen um die Wichtigkeit eines guten Gitarrenriffs und eines subversiven Refrains würden den Rest erledigen.

Aber das sind natürlich alles nur Spekulationen die sich in der Zukunft bestätigen oder vielleicht gänzlich verwerfen werden. Es geht um das Happening, nicht um die Konstruktion eines Mythos. Es ist wie der Yoko Ono Piano Drop von Al Hansen, bei dem dieser ein Klavier aus einem Haus wirft, und man mit offenem Mund davor steht ohne zu wissen was mit einem geschieht.
foto: universal music


beck
"guero"
geffen 2005 cd / lp
beck

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Tocotronic [Kassel, 20.03.2005]

Die Grenzenlosigkeit des guten Geschmacks.
Tocotronic wissen die leidenschaftliche Ästhetik ihrer neuen Stücke mit der melancholischen Wut früherer Tage in vortrefflicher Harmonie Live zu verbinden.


"das nächste stück ist ein manifest gegen das schlechte in der welt."
(dirk von lowtzow über 'das unglück muss zurückgeschlagen werden')

Als mir Jan Müller am Nachmittag vor dem Konzert zufällig in Kassel begegnet, unterhält er sich mit zwei weiteren, den hamburger Akzent nicht leugnen könnenden Männern über die alte Provinzmetropole, und ihre banale Beschaulichkeit. Ich verzeihe ihm sein Unwissen großzügig, hat Kassel doch wider jeder Beschreibung tatsächlich wunderschöne Gegenden, und diese wären deutlich ausgeprägter, wäre Kassel nicht zum Ende des zweiten Weltkrieges als einige der deutschen Städte neben Dresden, völlig dem Erdboden gleich gemacht worden. Die anschließende Wohnungsnot führte dazu, unansehnliche Plattenbauten in großen Mengen und vor allem in kurzer Zeit hoch zuziehen. Wem kam zu jener Zeit schon der Gedanke an eine spätere Kulturhauptstadtsbewerbung in den Sinn? Genug Lokalpatriotismus.

Am Abend bietet das, mit gut achthundert Gästen ausverkaufte Musiktheater im Kasseler Nirgendwo zwischen Fitnessstudios und alten Fabrikgebäuden, zunächst für eine halbe Stunde die ruhige Popmusik von La Grande Illusion, einem Pop Duo aus der freien und Hansestadt Hamburg, wie man selbst erklärt. Gemischter Bonnie und Clyde Gesang, akustische Gitarre und Perkussion über elektronisch verträumten Beats.

Die kontrastierende Abwechslung zu Tocotronic weiß leider nur wenige Besucher sichtlich zu begeistern. Wie sagte aber schon Thees Uhlmann in seinen Tocotronic Tourtagebüchern, damals über Erobique im Vorprogram: "Einigen Leuten scheint das nicht gefallen zu haben – aber ich bitte Euch: Das macht doch keinen Sinn, sich eine stilnahe Band aufzuhalsen. […] Man könnte einen auf supersensible Rockkollegen machen, aber wer will das schon?"

Beim betreten der großen Bühne zeichnet sich ab, dass das Publikum den vier Herren die gleiche Freundlichkeit entgegen zu bringen weiß, wie Tocotronic mit stets vorbildlicher Höflichkeit ihrem Zuhörern begegnen. Selbstsicher eröffnet man mit der potentiellen Zugabe Ich Habe Stimmen Gehört, dem letzten, elegischen Stück der aktuellen Veröffentlichung "Pure Vernunft Darf Niemals Siegen". Das Publikum honoriert die vielen ruhigen Stücke von "K.O.O.K.", sowie dem selbstbetitelten weißen Album mit Aufmerksamkeit, und es ist einfach schön den intimen Austausch in dem Club zu fühlen. Dirk von Lowtzows überschwänglicher Freundlichkeit, und seine selten so ausgeprägte Redseligkeit tun ihr übriges. Auch wenn man ihm vielleicht ein wenig Schrulligkeit zuschreiben möchte, wie er da in seinem schwarzen Buffy T-Shirt wie eine Mischung aus dem schlaksigen jungen Mann aus "Digital Ist Besser" Zeiten, und dem intellektuellen Dandy zu Phantom/Ghost Tagen erscheint. Dieses verwischen der Zeiten wird auch durch das klangliche Zusammenführen von Stücken aus den Anfangstagen und denen der aktuellen Alben deutlich. So herrlich ungeniert kann man sich zuhause nicht den Achten Ozean und Drüben Auf Dem Hügel hintereinander anhören, ohne hin und her gerissen zwischen den vergangenen zehn Jahren zu sein. Mit dieser Zusammenführung ihrer musikalisch wie auch textlich so unterschiedlichen Schaffensphasen, dürfen sie einen jeden Lügen strafen, der noch immer nicht umher kann, zurückgewandt die alten Zeiten hochleben zulassen, und die bemerkenswerte Entwicklung dieser vielleicht wichtigsten deutschen Band herunterzuspielen.

Eines ist jedoch sicher, wenn auch eins zu eins vorbei ist, das vertraute Brennen fühlt man noch immer in sich drinnen, genauso wie in den Augen der Protagonisten auf der Bühne, selbst wenn dem Herrn von Lowtzow während dem Stück Drei Schritte Vom Abgrund Entfernt in der ersten Zugabe die Saiten reissen. Durch Rick McPhail und der zweiten Gitarre, erreichen Tocotronic überzeugend eine neue, melodiebetonte Musikalität, welche sich überaus positiv auf das Livespiel auswirkt. Besonders die an diesem Abend in großer Zahl vertretenen Stücke des, den musikalischen Umbruch einleitenden 99er Werkes "K.O.O.K.", zeigen sich in einem rockmusikalischeren Gewand als die Originale selbst, wird doch das Synthesizer und Bläser Arrangement in einem prachtvollen Gitarrenspiel übersetzt. Das, wie Dirk von Lowtzow einleitend erklärt, "Stück mit dem wohl bescheuertesten Anfang der Welt", Jackpot, erstrahlt so in einem neuen Licht, bevor man sich den dogmatisch instrumentalisierten Stücken des wahrlich prachtvollen neuen Albums widmet, und sich nach Pure Vernunft darf Niemals Siegen zurückzieht. "Das ist das letzte Stück für heute Abend", weiß Arne Zank vom Schlagzeug aus zu berichten. "Dafür ist es aber auch ein sehr wichtiges."

Das Publikum - bei welchem auffällig wenig Trainingsjacken und deren Träger ins Auge fallen, auch wenn dieses adoleszente, zum Markenzeichen des Indie-Universums verkommene Artefakt einer vermeintlichen Generation schließlich Anfang der Neunziger versehentlich von Tocotronic inspiriert wurde – applaudiert frenetisch, und der beinahe ungewöhnlich hohe Altersdurchschnitt fällt beim umblicken ins Auge. Um ein Paar Stücke der ersten Alben zu präsentieren, kommen zunächst nur Arne Zank, Jan Müller und Dirk von Lowtzow zurück auf die Bühne, bei einer weiteren Zugabe stehen dort Tocotronic jedoch wieder zu viert. "Wir sehen scheinbar unbeschwert Rock Pop In Konzert" resümieren sie den Abend selbst, um danach mit einer ungewohnt ergiebigen Feedbackorgie am Ende des auf über zehn Minuten angeschwollenen Stückes Neues Vom Trickser endgültig hinter der Bühne zu verschwinden, und die Gäste mit freudig entspannten Gesichtern in die Kasseler Nacht zu entlassen.
foto: marco merten


tocotronic
la grand illusion
musiktheater kassel

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Kettcar [Von Spatzen Und Tauben, Dächern Und Händen]

Befindlichkeitsfixation Strikes Again.
Kettcar wollen mit ihrem neuen Album Niemandem sagen, dass es einfach sein würde, meistern jedoch meist den Balanceakt zwischen hintergründigem Wortspiel und platter Attitüde.


"der kuchen ist verteilt, du spürst, die krümel werden knapp."
(deiche)

[Herbst 2002: Ein Bekannter sagt im Bezug auf das Kettcar Debüt, dass seine Gedanken das letzte Mal so intensiv mit den vorgetragenen Betrachtungen einhergingen, als er die erste Tocotronic Platte gehört hatte. Ohne diese beiden Bands in einen musikalischen oder inhaltlichen Zusammenhang bringen zu wollen, aber dieses Identitätsstiften, dieses jagenausoistesdoch, wie es viele mit Tocotronic popkulturell sozialisierte Men-schen beim Hören von deren Platten empfanden, erschließt sich auch der Hörergemeinschaft der Kettcar Fans.]

Diese kleinen Floskeln, diese Gedanken, die jedem irgendwann schon mal durch den Kopf gegangen sind als man mal wieder nur drei Schritte vom Abgrund entfernt war, kann wohl niemand anders als Marcus Wiebusch so wunderbar in einen lyrischen Gesamtzusammenhang bringen. Textzeilen die, jede für sich, ohne Bedenken auch im Kontext von Hauswänden, T-Shirts und Postkarten Bestand haben könnten, verbindet er mit einer plakativen Selbstverständlichkeit, die sowohl oberflächlich als auch bei intensiver Betrachtung zu funktionieren scheinen. Asso-ziationsketten die sich im Kern um die eigene Befindlichkeit drehen, denen es jedoch gelingt, aus der Befindlichkeitsfixation des Protagonisten heraus, stets auch genügend Raum für die persönliche Interpretation des Rezipienten zu lassen. Befindlichkeitsfixation. Eines der Wörter, die als unmöglich in einen Liedtext einzubringen betrachtet werden dürfen, im Debüt Album "Du Und Wieviel Von Deinen Freunden" jedoch gleich zweimal Einzug hielten. Bei dem neuen Album scheint dieser selbstreflektorische Ansatz jedoch ein wenig in den Hintergrund gerückt zu sein. Nicht von ungefähr scheinen die fünf Herren von Kettcar auf dem Plattencover im Gegenlicht zu stehen, nur als schattenhafte Silhouetten erkennbar, aber dennoch deutlich genug, um sagen zu können: das sind Kettcar.

"Zu erkennen dass man glücklich ist, ist Kunst" (Anders Als Gedacht).

Heraustretend aus dem allgemeinen medialen Tenor aus grenzenlosem Selbstmitleid und unabwendbarem Harzt IV Schicksal, und der daraus resultierenden resignierten Passivität der Bevölkerung, proklamieren Kettcar bewusst, einen positiven Ansatz im gegenwärtigen Unbill. Auf eine gewisse Art ist in dieser Hinsicht das Stück Einer etwa, ein politisches Statement, bei der sich die Band gegen die steten Schuldzuweisungen der Gesellschaft positioniert. "Counterstrike, Markus Merk, Mp3s, Courtney Love, deine Eltern, meine Eltern, Wind und Wetter, alle Eltern". "Ich würde aufhören, wenn aufhören heißt, es hört auf", bieten sie eine aussichtslose Kompromissbereitschaft an.

Kettcar transportieren in ihren Stücken eine scheinbar gnadenlos ehrliche Sicht der Dinge, und schaffen es immer wieder falschen Pathos, zu oft bediente Klischees und perfide Oberflächlichkeiten mit ihrer ganz eigenen, metaphorischen Art auszuweichen. Melancholie. Ratlosigkeit. Resignation. Verlorenheit. Ein Anliegen, was Mal mehr mal weniger gut gelingt. Aber doch immer mit der Hintertür der Hoffnung, die am Ende offen steht, weil man es auf dem Weg jenseits der Dreißig gelernt hat, Prioritäten zu setzen. Ehrlichkeit als Zünglein an der Waage zwischen Hoffnung und Enttäuschung. "Es ist besser für das was man ist gehasst, als für das was man nicht ist, geliebt zu werden." Und wenn sich Marcus Wiebusch in dem Stück Balu sogar der Liebe als solche nähert, der Liebe, die entsteht, wenn die Romantik vorüber ist, einer Liebe die sich den Hollywood und trivialliterarischen Verblümungen trotzig entgegenstellt, dann ist da dennoch ein Hauch von mittelständigem Pathos und Prä-Midlifekrisen Weisheiten zu spüren. In dem außergewöhnlichen Song Stockhausen, Bill Gates Und Ich - einem charismatischen Up Tempo Stück, welches eine Anekdote über Bill-Microsoft-Gates, dem Komponisten und Multi Tool Karlheinz Stockhausen und dem gebrochenen Daumen von Carlos Santana erzählt - erschwert man sich die bitter verdiente Ernsthaftigkeit im Auge des Betrachters, in dem man als Stilmittel im Refrain einen ganzen Kinderchor heranzieht, der zunächst zwar ein überraschtes ist-das-jetzt-Rolf-Zuckowski-Naserümpfen, später aber ein klares Gefühl von Selbstverständlichkeit provoziert. Aber wie sagte Rasmus Engler vom Intro so schön: "Der Wiebusch darf das."

[Frühjahr 2003: Tomte, Kettcar und Marr gehen auf Panzer Tour, und lachen schäbig über die dekadente Diskokugel und den Samtbehang im Hotel Reiss zu Kassel. Drei Männer, die, ob der alkoholgeschwängerten Luft, bei der Tour Planung, die Befürchtung hegen, nichts als verbrannte Erde zu hinterlassen – wie der Panzer, der durch die Strassen rollt - und somit ihrer Tour diesen martialischen Namen geben. Dürfen die sich solche Äußerungen denn erlauben?]

Als …But Alive damals "Hello Endorphine" herausbrachten, waren die Weichen bereits gestellt, und das Debüt Album von Kettcar war die logische Konsequenz, die sich aus einer Mischung von Unmut gegenüber alten Punk Traditionen und neugierigen Popbezügen destillieren sollte. Auf "Von Spatzen Und Tauben, Dächern und Händen" bewegen sich die fünf Hamburger noch einen Schritt weiter hin zum Pop als es der Vorgänger tat. Verzerrte Gitarren treten in den Hintergrund, melodiebetonte Arrangements, gern auch mit Streichern und Piano atmosphärisch inszeniert, ziehen das musikalische Augenmerk auf sich. Im Großen und Ganzen bleiben sie dem Weg, den sie mit "Du Und Wieviel Von Deinen Freunden" eingeschlagen haben treu, und sind damit trotzdem musikalisch Lichtjahre von alten …But Alive Weggefährten wie den Boxhamsters entfernt. Gern gesehen ist die Abwendung von dieser, Anfang der Neunziger konstruierten Szene jedoch nicht. Kettcar wussten von Beginn an zu polarisieren, eine Betrachtung die sich jedoch weniger auf die aktuelle Arbeit der Band, als vielmehr auf die eigenen Wurzeln besinnt. Auf dem aktuellen Album der Band Oma Hans ist die Zeile "Der Mainstream wie er leuchtet / Was früher war verglüht / Landungsbrücken sprengen / Depressive Anekdoten, die keinem etwas bringen außer Geld" nicht sonderlich gut versteckt. Natürlich ist ein noch größerer Erfolg des zweiten Kettcar Albums, im Gegensatz zum mittlerweile über dreißigtausend Mal verkauften Debüt, nicht unwahrscheinlich. Die Platte könnte auf der gegenwärtigen Woge der allgemeinen Offenheit, ja geradezu dem allgemeinen Dürsten nach deutschen Texten, tatsächlich in die Charts treiben. Das Grand Hotel als intelligenter, jedoch vielleicht unbeabsichtigter Nutznießer dieses, von der Musikindustrie geschmiedeten Hypes. Die Verteufelung des gegönnten Erfolges jedoch, steht dem peniblen, noch scheinbar lange nicht endgültig emanzipierten Indietums bereits jetzt in den Augen. Hierüber sind aber schon genug Zeilen verfasst worden, so dass ich es mir an dieser Stelle herausnehme, keine weiteren Ausführungen an dieser Stelle dazu fallen zu lassen.

[Frühling 2002: Durch einen gewöhnlichen Zufall stoße ich im Netz auf ein Stück Musik, bei dem zwei Menschen mit Gitarre und Fingerschnipsen in einer Radioaufzeichnung über Fußballspieler, Liebe und Sargnägel singen. Das Stück, so sehr es vom schwererträglich langen Titel Mein Skateboard Kriegt Mein Zahnarzt, Den Rest Kriegt Mein Friseur und auch vom Bandnamen Kettcar her, auf platte Spaß Punk Allüren schließen lässt, steckt so voller Wortwitz und Sentimentalität, dass ich nicht umher kann, und mein Interesse an der dazugehörigen Band, auf lange Zeit hin auf diese richten werde.]
foto: martina drignat


kettcar
[von spatzen und tauben, dächern und händen]
grand hotel van cleef 2005 cd / lp
kettcar

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