Madsen [Madsen]

Laut schreiende Schwebezustände.
Die Marketing Maschine schreibt den Namen Madsen bereits an jede freie Litfasssäule und generiert, wie so oft, einen immensen Hype um ein paar Jungs, noch bevor die ersten Töne angeschlagen werden.



"und heute wird wie morgen sein. ich möchte einfach nur wissen wer ich bin."
(wohin)


Man sollte vielleicht berücksichtigen, wenn man sich mit dem Debüt Album der Wendlander Band Madsen beschäftigt, dass es zur Zeit in der Republik nicht gerade schwer ist, einen Hype zu entfachen, wenn es dabei um deutschsprachige Gitarrenmusik geht. Und ganz besonders dann nicht, wenn hinter diesem Debüt auch noch ein schwergewichtiger Konzern wie Universal steht, dem es nicht schwer fallen dürfte, den bereits erfolgreich medial omnipräsenten neuen Hengst im Stall auch gleich auf die meisten der diesjährigen Festival Gelände zu stellen. Zu allem Überfluss schreibt auch noch, und damit hätten wir die dialektische Dreisamkeit beisammen, der populäre Indieveteran und seines Zeichens selbst Labelchef, Thees Uhlmann die Presse Laudatio zu dieser Band. Und dass eben dieser Herr nicht gerade sparsam mit Superlativen umgeht und umgehen will, wenn es das Herz verlangt, ist gewiss. Mit all diesem Wissen im Hinterkopf, wird diese Band wahrscheinlich einmal mehr Lager polarisieren.

Zurückspulen. Die Brüder Sebastian und Sascha Madsen haben bereits Mitte der Neunziger gemeinsam mit Nico Maurer englischsprachige Musik gemacht, die wir hier getrost unbeachtet lassen können. Jeder weiß, was in den Jugendzentren dieses Landes Mitte der Neunziger von dem Klientel eingefordert wurde, und dass dies wenig rühmlich war. Dennoch ist Musik, und hier spreche ich gewiss aus Erfahrung, eine der wenigen ambitionierten Tätigkeiten, die einem von der provinziellen Einöde quasi aufgebürdet werden, wenn man sich aus dieser festen Umklammerung der scheinbar seit Jahrzehnten stillstehenden Zeit der Bedeutungslosigkeit herauslösen möchte. Meine nordhessischen Erfahrungen dürften hier nicht weit vom norddeutschen Wendland – Home of the Castortransporterstopps – divergieren. Diese kleinstädtische und ländliche Unzugehörigkeit kann jedoch auch durchaus etwas für sich haben, unterliegt man keinen Zwängen was Richtungsausprägung und szeneabhängige Einschränkungen anbelangt. Die Zeit hat sich nun jedoch gewandelt, selbst in der Provinz, und das von H&M ausgestattete Volk fordert vehement den medialen Overkill der georgelucasschen, musikindustriellen Klonkrieger in deutscher Sprache ein. Unangebracht, den fünf Mit- bis Endzwanzigern von Madsen zu unterstellen, dass sie auf der Reklamation der perfekten Welle schwimmen wollen. Angebrachter vielleicht schon eher, dass der angesprochene Konzern hier weitsichtige Scouts entsandte, die ein sicheres Händchen bei der Wahl neuer Helden beweisen sollten.

"Sie sind verdreckt und keiner hat sie gern / Halte dich von diesen Kindern fern / Sie sind unintelligent und wollen auch nichts lernen / Halte dich von diesen Kindern fern / Das ist alles was du sagst / Genauer wird nicht nachgefragt / Es gibt nur gut und schlecht dazwischen ist nichts." (Diese Kinder)

Madsen gelingt es zunächst aufs erstaunlichste eine respektable Gitarrenmusik mit Querverweisen zu Punk und Rock und dem was man als Plagiat des Sounds der Hamburger Schule betrachten darf, zu produzieren, und dabei einen homogenen Klang und Gestus zu transportieren. Man weiß mit lauten und leisen Harmonien zu spielen und dabei besonders die Stimme von Sebastian Madsen als Objekt mit dem höchsten Wiedererkennungswert gezielt einzusetzen. Zwischen zartem Wehklagen und zornigem Geschrei nutzt er viele Facetten seiner Ausdrucksweise und erinnert besonders in seinen lakonisch wütenden Momenten klanglich an die frühen Jahre der Hamburger Band Tocotronic. Konträr zu den Texten eben dieser jugendbewegenden Band, bewegen sich die Texte des Herrn Madsen jedoch auf einem weitaus unkonkreteren Terrain, was es ihm erlaubt unterschiedliche Empfindungen in den Rezipienten auszulösen, aber trotzdem konkrete Momente des Zwischenmenschlichen zu skizzieren. Eine eher angloamerikanische Tradition wird behauptet. "Ich, du, wir, die Welt, der Himmel, die Hölle, das Leben und der ganze Rest, hin und zurück in einer Zeile! Das muss man erst einmal schaffen. […] Das Schönste an Rockmusik: das Erklären in drei Minuten." (T. Uhlmann) Ich, du und wir sind tatsächlich die drei Eckpunkte, die hier in den zwischenmenschlichen Beziehungen beklagt und resümiert, aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und ausgelotet werden, ohne dabei auf die tückenhaften, metaphorischen Klischees der Liebe hereinzufallen. Statt derer wird eine überraschend erwachsene, distanzierte Betrachtung der Dinge, wie sie nun mal sind artikuliert. "Wir erzählen uns jeden Tag / Wie sehr wir uns lieben / Wir verschweigen uns jeden Tag / Das wir uns belügen / Doch du hältst dich an mir fest / Du lässt mich nicht mehr los / Denn so sind wir es ja gewohnt" (Immer Mehr) Die melancholische Stimmung immer wieder durch das beachtenswert melodische Schreien gebrochen. Ein identitätserfassendes Ganzes, unfehlbar schön und unerreicht unprätentiös?

Die zu bewundernde Diskrepanz zu den gleichgeschalteten, radiophilen Stücken oben bereits erwähnter Deutschpop Welle, kann offensichtlicher nicht sein, wenn man sich den elf Stücken des selbstbetitelten Debüts nähert; sperrige, wenn auch offensiv produzierte Klänge, schrammelige Gitarren und vor allem eben jene exzessiv geschrieenen Textpassagen wie etwa in der Aufmerksamkeit erregenden Single Die Perfektion, dürften verstörend auf die üblichen Konsumenten wirken. Als wolle er die kratzigen, aber dennoch harmonischen Klänge der Strophen mit seiner tobenden, emotionalen Unmittelbarkeit verstören, setzt sich der smarte Sänger immer wieder in Szene. Dies gelingt einmal mehr (Die Perfektion) und einmal weniger eindrucksvoll (Panik, mit beinahe an Such-A-Surge angelehnten Sprechgesangsparts) Das alte Laut – Leise Spiel, dass die fünf Herren hier immer wieder in aller Deutlichkeit aufs neue strapazieren, wirkt jedoch mit der Zeit sehr berechenbar auf den Hörer, und kann als prominentestes Stilmittel der Wahl nicht auf kompletter Albumlänge begeistern, da hierfür die musikalischen Hintergründe der Stücke leider zu wenig abwechslungsreich sind. So scheinen nach mehrmaligem Hören besonders die eher ruhigen Momente auf der Platte überzeugen zu können, die zunächst atypisch für den bereits gefundenen Stil von Madsen sind. Eine schwermütige Grundstimmung, wie man sie etwa bei den älteren Stücken der Hamburger Tomte findet. Eine lakonische, adoleszente Subtilität die sich etwa in der balladesken Vertonung eines "jugendlichen Schwebezustandes" (Intro) in Form des Stückes Im Dunkeln ausbreitet. "Die Masken ab, nichts mehr perfekt / Wir brauchen uns nichts vorzuspielen, die Zuschauer sind weg / Keiner weint und keiner lacht / Die Tür geht zu und wir sagen gute Nacht / Denn das ist jetzt der Moment / In dem alles endet und neu beginnt."

Den Erfolg, der sich über kurz einstellen wird, darf man den Herren dennoch für ihr Debüt gönnen, wenn auch nicht gleich so euphorisch manifestiert, wie Thees Uhlmann dies tut: "Wenn Madsen Erfolg haben, dann ist das nicht der viel beschworene Zufall, sondern erstens gerecht und zweitens Bestimmung!"
foto: ingo pertramer



madsen
"madsen"
vertigo 2005 cd
madsen

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Mariy Taylor [11:11]

Es würde sogar die Holzpuppe auf dem Cover merken, dass das Herz zum Schlagen und die Tränen zum Vergießen da sind.



"and when it changes, fine i'll go, i'll go, i'll go."
(nature song)


Mit dem Lied Leap Year fängt Maria Taylor ihr erstes eigenes Album "11:11" an und der Start ist ihr gut gelungen. Ein kurzer Moment Stille, dann ein leises Grummeln und schön fängt es an. Die Hintergrundstimmen werfen um sich und das Klavier gleich hinterher. Man fühlt sich für einige kurze Sekunden, als würde man in eiskaltem Wasser tauchen, um einen herum würden Eiswürfel schwimmen und plötzlich taucht man auf. Ohne etwas zu machen, stößt sich der Kopf aus dem kalten Wasser heraus und man kann sich beruhigt zurücklehnen und sich durch die musikalische Vielfältigkeit des Albums schleppen lassen. Bei vielen Alben dieser Art, die ruhig und gelassen beginnen, hat man Angst, dass es irgendwann auch mal richtig laut und wild werden könnte. Man hat sich an die wohltuende Stimme von Fräulein Taylor gewöhnt und den Kassettenrekorder gleich doppelt so laut gestellt, als normal. Doch vielleicht sollte man ihn doch noch ein wenig zurückstellen. Die Protagonistin, die bei dem selben Label (Saddle-Creek) unter Vertrag ist, wie Conor Oberst von Bright Eyes oder The Faint, kann auch schon mal richtig auf den Putz hauen und trotzdem ihre Stimmlage so halten, dass das elektronisch angehauchte Lied One For The Shareholder noch zu einem Lied gehört, dass man abends auf dem Balkon hören kann. Wenn man mit den besten Freunden Würstchen und Schaschlik-Spieße grillt, Bier trinkt, lacht und Maria Taylor lauschen kann. Es ist wohl so ziemlich für fast jeden Etwas dabei. Für die Achtziger-Anhänger, für die melancholischen Personen, für die rhythmischen oder eben für die einfach vielfältigen Menschen.

Dieses Album eignet sich wohl zu vielen Anlässen und Gefühlslebungen, aber ganz sicher auch zu Liebeskummer. Man möchte sich zum Beispiel bei Two Of Those Too entweder auf der Stelle neu verlieben oder sich einfach still und heimlich wieder entlieben. Sie kann einem Menschen mit ihrer Stimme Unmengen von Mut zu werfen, aber auch Jemanden zum weinen bringen. Nehmen wir an, man wurde soeben versetzt, betrogen, verlassen oder hat schlicht und einfach einen schlechten Tag. Am liebsten würde man sich die Decke über den Kopf ziehen und sich in seinem Kleiderschrank verstecken. Dann kommt Maria Taylor, die auf ihrem Album nicht nur singt, sondern auch noch Gitarre, Klavier und Schlagzeug spielt, und flüstert einem ins Ohr: "We were two of those, too."

Was anderes als weinen würde mir, als Mädchen, wohl nicht einfallen. Aber als Junge vielleicht sogar auch nicht. Oder man würde wenigstens so traurig schön schauen, wie Conor Oberst, der auf Maria Taylors Album mitwirkt und zum Beispiel bei Song Beneath The Song die Hintergrundstimme bildet. Man möchte einfach Stunden die Stimme von Maria Taylor in seinem Ohr mit sich herum tragen. Manchmal ist es noch nicht einmal dieses typische Singen, sondern es sind auch oft ein paar Wörter und Zeilen vorhanden, die sich anhören, als würde sie uns eine kleine Geschichte aus ihrem Leben erzählen. So möchte man bei dem zweiten Lied ihrer Platte Song Beneath The Song die Wörter "[…] an interesting detachment […]" immer wieder zurückspulen und von Neuem hören, weil man sich ein Stück weit fühlt, als hätte man jemanden in seinem Ohr sitzen, der einem Mut zu spricht. Jemand, der einem sagt, dass alles irgendwann gut wird und nicht alles so bleiben wird, wie es ist. Man möchte ihre Stimme am liebsten einpacken und immer dann herausholen, wenn man ein wenig Unterstützung braucht. Man fühlt sich gleich um einige Gramm leichter. Als wäre dort Jemand, der einen auffängt. So ist das letzte Lied eine Mischung aus Traurigkeit und Melancholie. Es ist das Lied, in dem Maria Taylor all ihr instrumentalisches Wissen mit einbaut und selbst viele Instrumente verwendet. Es ist wie am Anfang ein unterstufiges und dumpfes Geräusch bzw. Gefühl, als wäre man Unterwasser. Lauter Vögel und Eiswürfel schwimmen um einen herum. Doch diesmal scheint man im Wasser zu schwimmen und am Ende erst abzutauchen. Mit schönen Worten umschmeichelt die Sängerin das Lied und man möchte am liebsten auf dem Meer davon treiben. Von dem Ganzen, was uns noch trauriger macht, als dieses Album, welches aber ein schönes traurigsein auslöst. Dieses beruhigte, stille Dasein und man weiß ganz genau, dass man keinen wirklichen Grund hat, zu weinen. Man tut es einfach und es tut gut. Einfach mal weinen, ohne zu wissen warum. Ohne zu wissen, dass es dort einen bestimmten Grund gibt, der einen zum Schniefen bringt.

Das tut gut. Nein, Maria Taylor tut gut.
foto: saddlecreek.com



maria taylor
"11:11"
saddle creek 2005 cd
maria taylor

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Immergut Festival [Neustreliz, 27.-28.05.2005]

Im sechsten Jahr wagt sich das Immergut auf unbekanntes Terrain und geht trotz manch skeptischer Stimmen nicht verloren, sondern wird für seinen Mut belohnt.


"this is such a beutiful surrounding."
(paul smith)

Der Stereotyp im Allgemeinen ist einer der natürlichsten Aspekte zwischenmenschlicher Beziehungen und essentieller Bestandteil in der persönlichen Bewertung einer Sache, mag der Blickwinkel auch noch so objektiv erscheinen. Dies gilt selbstverständlich auch für Festivals, insbesondere aber für das Immergut. Seit der Premiere im Jahr 2000 hat es sich zu einem Festival von formidablem Ruf entwickelt und wird nicht nur von der Fachpresse immer wieder zum besten Festival des abgelaufenen Jahres gekürt. Dies trägt allerdings auch zu einem gewissen elitären Gestus bei, der durch die starke subkulturelle Ausprägung des Publikums hervorgerufen wird.

Dementsprechend hoch sind jedes Jahr die Erwartungen an das Line-Up und heuer war die Aufregung groß, als die letzten Acts bekannt gegeben wurden, namentlich Last Days Of April, The Album Leaf, Melody Club und Deichkind. Nicht nur schien ein großer Knaller zu fehlen, besonders Letztgenannte sorgten für kontroverse Diskussionen, war dies doch neben den Puppetmastaz bereits der zweite HipHop-Act, der für dieses explizite Indiefestival gebucht worden war. So verbinden die meisten Besucher mit dem Immergut im weitesten Sinne Gitarrenmusik abseits des Mainstream, so dass der Name Deichkind bei vielen zunächst für Irritationen sorgte und auf intuitive Ablehnung stieß, während das restliche Line-Up sich in gewohnten Bahnen bewegte.

Den Anfang machten die Belgier Styrofoam, denen es bei strahlendem Sonnenschein jedoch the album leaf nicht so recht gelang, den Zauber ihrer Musik vom Studio auf die Bühne zu übertragen, was neben den fehlenden Gastmusikern insbesondere mit einem katastrophalen Sound zusammenhing. Zu begeistern wussten dagegen Timid Tiger, die als erstes die Zeltbühne betraten. Erstaunlich routiniert und gleichzeitig erfrischend präsentierte sich das jüngste Signing von L’Age D’Or, dementsprech-end sprang der Funke aufs Publikum innerhalb kürzester Zeit über.

Ein erster Höhepunkt des Abends waren The Robocop Kraus auf der Hauptbühne. Kraftvoll stiegen sie in ihr Set ein, welches durchsetzt war von Stücken ihres in Kürze erscheinenden Albums "They Think They Are The Robocop Kraus". Eine energiegeladene Masse feierte sämtliche Stücke ab, als seien sie alle bereits Klassiker. Von selbigen spielten Nada Surf nur sehr wenige, und so verstrich ihr Auftritt zwar angenehm doch unspektakulär.

Von der Euphorie des Publikums überrascht wurden Girls In Hawaii, die ihre Songs mit Hilfe von Videoclips auf mehreren Fernsehern und als Projektion visualisierten. Ihr treibender Indierock benötigte keine großen Gesten, vielmehr war die Exaltiertheit der Band auf die Gefühlsintensität zurückzuführen, die durch die Musik als Bindeglied zwischen Musikern und Publikum zu spüren war.

Unter strahlendem Sternenhimmel präsentierte sich Moneybrother als ein Headliner, der seine Band und das Publikum fest im Griff hatte. Sein gesamtes Auftreten war von einem starken Showeffekt geprägt, was dem Soulelement seiner Musik ebenfalls eine größere Betonung verlieh. Dabei überspannte er den Bogen ein wenig, doch die Menge ließ sich von ihm mitreissen.

Die Überraschung des Abends waren jedoch die Puppetmastaz, die zum Abschluss auf der Zeltbühne spielten und zum Headliner der Herzen wurden. Zu packenden Beats boten sie eine wahnwitzige Puppenshow mit verschiedenen Charakteren, die sich gegenseitig in Grund und Boden rappten. Die Reaktionen des Publikums waren dabei derart überwältigend, dass sie erst nach einem halben dutzend Zugaben die Bühne für die anstehende Disco räumten.

Samstags war der Festivalbesucher zu Beginn des Tages traditionellerweise vor die Wahl gestellt, den Mittag an einem der vielen nahe gelegenen Seen zu verbringen oder sich beim Immergutzocken am fußballerischen Können der Musiker zu ergötzen.

So war es kaum verwunderlich, dass auf dem Festivalgelände noch reichlich wenig los war, als das Programm nachmittags startete. Doch spätestens bei Seidenmatt hatte sich wieder eine größere Schar an Zuhörern versammelt. Dies honorierend lieferten die vier Berliner genauso wie ihre Sinnbus-Labelkollegen von Kate Mosh kurze Zeit später einen großartigen Auftritt ab, ihre charmante Art wirkte dabei genauso einnehmend wie ihr instrumentaler Postrock. Vor der Hauptbühne ließen sich viele Menschen zu den Klängen von The Album Leaf in ein Nachmittagsnickerchen wiegen, welche ein stimmungsvolles und andächtiges Set spielten.

Als Herzensband angekündigt wurden anschließend die Boxhamsters. Die alten Giessener Punkheroen, einstmals wichtige Wegbereiter der Hamburger Schule, wurden so stürmisch abgefeiert, dass es ihnen fast die Sprache verschlug. „Dass wir das nach zwanzig Jahren erleben dürfen!“, mit diesem Satz auf den Lippen verließen sie die Zeltbühne, während Kante auf der Hauptbühne vom Sonnenuntergang begleitet einen Querschnitt ihrer letzten beiden Alben präsentierten.

Einen der besten Auftritte bestritten Ms. John Soda, deren Sängerin Stefanie Böhm interessanterweise die einzige Frau im gesamten Festival Line-Up war. Gemeinsam mit Micha Acher gelang ihr eine packende Verquickung von Gitarren und elektronischen Beats, und nicht zuletzt sollte ihre charismatische Stimme die Zuhörer schmelzen lassen.

Der von vielen erwartete Höhepunkt des Abends waren Maximo Park. Noch vollmundig als beste Band der Welt angekündigt rechtfertigten sie diese Ansage vollkommen. Ein Paul Smith, der die Musik mit Haut und Haaren performte, eine Band, die ein musikalisches Feuerwerk abbrannte und auf einmal wurde jeder gute Song des aktuellen Albums zu einem Überhit. Großartig!

Kaum zu glauben war da, dass hinterher Deichkind noch gelang, die Stimmung im Zelt völlig zum Überkochen zu bringen. War vor dem Auftritt von manchem Skeptiker noch ein Debakel prophezeit worden, so belehrten ihn die drei Wahl-Hamburger eines Besseren. Treibende Elektrobeats und in grellen Neonfarben leuchtende Kostümierungen verwandelten das Zelt in ein Tollhaus. Ob der musikalischen Qualität und der fast schon überhandnehmenden Euro-Trash-Verweisen mag man sich streiten, doch Deichkind gelang es in jedem Fall aufzuzeigen, wie man Immergutbesucher an den Rand der körperlichen Erschöpfung treiben kann.

Umso enttäuschender war die abschließenden Melody Club aus Schweden. Sie spielten zwar ein sehr routiniertes Set, doch ihre Mischung aus Glamrock und billigem Klingeltonpop, der zuweilen an Matthias Reim erinnerte, hätte dem Festival einen unwürdigen Abschluss gegeben. Doch im Anschluss legte das Spex-DJ-Team im Zelt zum Tanz auf, und die Menge feierte bis in den Morgen hinein sich selbst und das Festival. Nicht zu unrecht, denn in diesem Jahr hat das Immergut einen Blick über den eigenen Tellerrand gewagt. Ein starres Schema wurde aufgebrochen und das sonst als wertkonservativ geltende Publikum honorierte dies. Eine Veränderung die gut tut.
foto: mujuk.de


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Cloroform [Hey You Let's Kiss / Cracked Wide Open]

Energetischer Stilbruch.
Über Mundpropaganda, weshalb norwegische Musik immer höhere Standards setzt, körperliche und seelische Läuterung und was das alles mit den frenetisch zu feiernden Cloroform zu tun hat. Ein Erklärungsversuch.


"i'm almost always right."
(the all-righter)


Der Human Development Index, kurz HDI, macht es sich jedes Jahr zur Aufgabe, den Stand menschlicher Entwicklung in allen Länder dieser Erde anhand einiger, differenzierter Beobachtungskriterien zu beurteilen. Dieser jährliche Bericht des United Nations Development Programmes berücksichtigt Aspekte wie etwa die Lebenserwartung der jeweiligen Staatsbürger, das Bildungsniveau, die Rate der Analphabetisierung unter den Erwachsenen und die reale Kaufkraft pro Einwohner. All diese Teilindizes ergeben, nachdem man sie anhand einer überschaubaren Formel miteinander in einen Kontext setzt, einen Durchschnittswert, der im ganzen zwischen Eins und Null liegt. Wobei Eins den obersten Grenzwert darstellt. Innerhalb dieser Statistik belegt die Bundesrepublik immerhin einen vorderen Rang mit dem neunzehnten Platz. Das Land, welches anhand dieser Statistik zurzeit, wie auch im letzten Jahr, auf dem ersten Platz kursiert, ist Norwegen mit einem HDI von beachtlichen 0,956. (Quelle: Human Development Report 2004).

"Hey you sitting at the bar with the brown hair; With your brown drink, at you I stear."
(Hey You Let’s Kiss)

Mundpropaganda setzt sich immer genau dann durch, wenn sich die übliche Infrastruktur noch kein ausreichend differenziertes Bild eines Ereignisses gemacht hat. Sie ist jedoch auch stets unübersichtlich verästelt und wenig nachvollziehbar in ihrer netzwerkhaften Struktur. Die dänische Freundin eines Mitbewohners des in Berlin lebenden Bruders meiner Freundin. Das ist die komplexe URL im Netzwerk der Mundpropaganda in diesem expliziten Fall. Cloroform. Als das Video zu dem Stück Hey You Let’s Kiss über den dunklen Bildschirm meines Rechners flimmert, bin ich hin und her gerissen von dem schmalen Grad zwischen Wahnsinn und Genialität und entscheide mich für das einzig vernünftige, was sich in diesem Fall anbietet: tanzen und weitersagen. Es ging einfach nicht anders, als dass wir Kontakt mit dieser Band in Norwegen aufnehmen, und ihnen unsere Dringlichkeit und den Wunsch der Berichterstattung mitteilen mussten. A man’s got to do …

In besagtem Video, welches eine Komposition einzelner Live Auftritte visualisiert, sieht man einen smarten Sänger in einem Pete Townshend ähnelndem Arbeiter Overall, einen vollbärtigen Unterhemdträger, der mit einem Drumstick seinen riesigen Kontrabass malträtiert, sowie einen wild treibenden, völlig durchnässten Schlagzeuger auf einer kleinen Bühne stehen und eine Art von Performance darbieten, die sich in ihrer Dringlichkeit rhythmisch zwischen dem bewegt, was man sich unter Shows von Frank Zappa, den Sex Pistols, den Stray Cats und einem Jazz Trio vorstellen mag. Allein die Konstellation der Instrumente der drei Herren ist beneidenswert unorthodox: Sofort ins Auge sticht nicht nur optisch der bereits angesprochene Kontrabass, an welchem Øyvind Storesund – der auch für das Kaizers Orchestra und Wunderkammer spielt – die Stücke mit unmittelbar groovenden Bass Linien vorantreibt, ohne darauf zu verzichten immer wieder um diese Themen herum zu improvisieren. Børge Fjordheim vermischt Elemente aus Rock 'n' Roll und Jazz am Schlagzeug und transportiert diese mit dem Druck eines Heavy Metal Drummers in einer schroffen Ästhetik. Die Melodien der Stücke werden maßgeblich durch Clavinet und Keyboard geprägt, und scheinen mit ihrer klanglichen Old School Hommage diese immer wieder ad absurdum zu führen. Verantwortlich zeigt sich hierfür Mastermind John Erik Kaada, der neben Cloroform auch als Solokünstler und Soundtrack Komponist arbeitet. "Cloroform ist eine Art Läuterung für Körper und Seele", umschreibt er metaphorisch. "Wir wenden nicht viel Zeit dafür auf, darüber nachzudenken, was wir gerade tun – wir machen einfach was wir für das Richtige halten. Wir haben eine Menge Schmerz der kanalisiert werden muss, und das reflektieren wir in unserer Musik."

storesund, kaada Cloroform gelingt es diese düsteren und zorni-gen Elemente, aber auch die "rhythmische Finesse und harmonische Eleganz" (Mic Norway) zu differieren, und sich mit ihrer nonkonformistischen Musik souverän irgendwo zwischen Rockabilly Ästhetik, Free Jazz, Heavy Metal, Industrial, Britpop und Cut & Paste Electronica anzusiedeln. In Kaada’s Texten werden dabei gern bissig ironische Alltagsbeobachtung ("Bad Cop, bad Cop, no Donut" aus No Good) fallen gelassen. Zu meist sind die Stücke vornehmlich durch die beängstigend gut situierte Rhythmusarbeit vorangetrieben, um sich dann jäh in eine völlig andere Richtung zu bewegen. Dazwischen tummeln sich immer wieder ganz subversiv Musical Referenzen, Hillbilly Naivität und bizarre Samplezitate, wie das unterschwellige erklingen des Windows Start-up Jingles in dem vortrefflichen, immer wieder die Richtung wechselnden Song Crush. In einem Stück wie Special Needs lässt man dann jede Konvention und Pietät hinter sich, und springt zwischen präzisen Bass Riffs, verzerrten Keyboardmelodien, Industrial Sondeffekten, und lakonisch monotonen Wort Repetitionen auf der einen Seite und beatlesk, mehrstimmigen Harmonie Gesang auf der Anderen. "I want a new drug that will last forever / Gimme, Gimme, Gimme, Gimme". Analoges gilt auch für das maßgeblich für diese Besprechung verantwortliche Titelstück des vorletzten, und fünften Albums der Band, Hey You Let’s Kiss; Wenn hier die Zeile "Hey you, let’s kiss" abwechselnd voller Inbrunst übersteuert geschrieen um danach mit einem Vocoder deformiertem und hoch gepitchtem Klang, fast niedlich über einem Jazz-Punk-Elektronik-Konglomerat gesungen wird, dann dürfte dies hier zu Lande in der öffentlich-rechtlichen Berichterstattung Verwirrung und Distanzierung regnen und nicht etwa zu Äußerungen wie "One of the most exciting concerts in this year" (Staatliches Musik Informations Zentrum Norwegen) führen.

Cloroform stammen aus Stavanger, der viertgrößten Stadt Norwegens mit knapp 115000 Einwohnern. Kleinstädtische Verhältnisse, vergleicht man es mit den Maßstäben die in unserem Land über den fahlen Beigeschmack von Provinz oder den vermeintlich kosmopolitischen Glamour der Urbanität entscheiden. Dass die Skandinavischen Länder in mannigfaltiger Weise anders sind als der kontinentale Rest Europas, schlägt sich nicht nur durch die jüngsten PISA Studien nieder. Irgendwo las ich mal einen mehr als bezeichnenden Kommentar, der besagte, dass die Deutschen im Jahr durchschnittlich 16 Euro, die Briten rund 88 Euro für Popmusik ausgeben. In Norwegen herrschen vermutlich britische Verhältnisse und dies zu Recht. Das reichhaltige Angebot an beängstigend guten norwegischen Produktionen - Turbonegro, Motorpsycho, Röyksopp und Jaga Jazzist hier nur mal exemplarisch aufgeführt - sprechen Bände. Dies ist jedoch auch von Seiten des Staates durch Subventionierung von jungen Talenten gefördert. Nicht nur, dass die norwegische Gesetzgebung von jeder Gemeinde fordert, Kindern Kunsterziehung anzubieten, auch die vorbildliche Infrastruktur bietet jungen Künstlern direkte Unterstützung etwa in Form von Tournee, Transport und Produktions Subventionen. Der norwegische Kulturrat deckt zum Beispiel zwischen 60 und 75% der Kosten bei den größeren Konzertveranstaltungen im Land. Und dies sind jährlich über 300. Vor diesem Hintergrund ist es selbstverständlich nicht schwer zu erahnen, dass ein enormes Netzwerk innerhalb der Kulturszene Norwegens existiert, und immer wieder Bands das europäische Ausland erreichen und Euphorie und Begeisterung hinterlassen. Oder, um einen anderen Erklärungsansatz neben diesem und dem Eingangs erwähnten für das Phänomen der skandinavischen Exklusivität im Allgemeinen, und Cloroform im speziellen, von der Band selbst zu nutzen: "Just three white kids from Rogaland / Have come to play in your town / I came to get down, I came to get down / White trash / We are the losers / Roll on, roll on, white trash / We'll rock your shit up you all" (Coming Over)

Von Kaadas eindringlichen Clavinet Melodien und Sample Arrangements über Storesunds unbeirrbaren Kontrabass Läufen bis zu dem unbeugsamen Rhythmen von Schlagzeuger Fjordheim, sowie dem oft mehrstimmigen Gesang, welcher sich besonders auf dem aktuellen Album "Cracked Wide Open" manifestiert, kreiert das Trio einen unverwechselbaren, selbstironischen Stil, der wohl selten seines Gleichen finden wird. "What a great pleasure it is, to hear music such as this" (R. Krautheim, Concussion Magazine).
foto: nina solheim

cloroform
"hey you, let's kiss"
kaaa records 2003 cd

cloroform
"cracked wide open"
waggle daggle 2005 cd

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Maximo Park [Frankfurt, 27.11.2005]

Mit Freundlichkeit und Schlagkraft
Maximo Park präsentieren live die immense Power ihrer Songs und überzeugen durch Charme und musikalisch kontrollierter Ekstase.


"the next one is a two-minute-popsong."
(pauls smith)

Es ist kein Wunder wenn man irgendwann den Überblick verliert. Seit die deutsche Presse auf den Hype-Zug des NME aufgesprungen ist, wird auch hierzulande im Wochentakt das neue große Ding proklamiert. Möge diese nun Bloc Party, Kaiser Chiefs, The Futureheads, Art Brut oder letztlich Arctic Monkeys heißen. Die damit verbundene öffentliche Wahrnehmung mag zwar die Verkaufszahlen steigern, doch die Bedeutsamkeit der jeweiligen Band als angehender Meilenstein der neueren Musikgeschichte darf getrost in Frage gestellt werden.

In diese Liste einreihen lassen sich scheinbar auch Maximo Park, deren Beliebtheitsgrad in Deutschland allerdings innerhalb des Jahres 2005 stetig angestiegen ist. Zeitgleich mit der Veröffentlichung ihres Debütalbums "A Certain Trigger" gab das Quintett aus Newcastle upon Tyne eine kurze und komplett ausverkaufte Clubtour durch Deutschland sowie eine kleine Anzahl an Festivalauftritten. Nur ein halbes Jahr später füllten sie nun bedeutend größere Hallen, so auch die Festhalle in Frankfurt.

Deren Charme entspräche eher der Aktionärsversammlung eines mäßig erfolgreichen Mittelstandsunternehmen, denn einem Rockkonzert. Die Wand ist holzvertäfelt, das Licht zu hell und es herrscht Rauchverbot, was ein bemerkenswert großer Teil des Publikums respektiert. Der riesige Raum ist zwar gut gefüllt, doch im Gegensatz zu den übrigen Konzerten nicht ausverkauft. Das Publikum entspricht einmal mehr den Frankfurter Verhältnissen und zugleich auch dem nicht unüblichen Durchmischungsgrad für Konzerte dieser Größenordnung, den man bei Maximo Park allerdings weniger erwartet hätte: Neben kreischenden Groupies weichen Kuttenträger, Eintracht-Fans und Nachwuchs-Gangstaz das Stereotyp des durchschnittlichen Konzertgängers erheblich auf.

Ebenso sehr hebt sich der Support von Maximo Park ab, die New Pornographers aus Vancouver eröffnen den Abend. Schon äußerlich taugt diese Band nicht dazu, einen inszenierten Hype auszulösen und auch die Musik ist weit weniger direkt und mitreißend, wie es beim Hauptact der Fall ist. Ganz und gar nordamerikanisch klingen ihre Songs, doch die feinen Arrangements der aktuellen Platte "Twin Cinema" gehen in einem katastrophalen Soundbrei unter. Dies ist sowohl der Akustik des Raumes, als auch der mangelnden Motivation des Mischers zuzuschreiben und so haben die New Pornographers mit mehr als widrigen Bedingungen zu kämpfen. Dementsprechend gering ist der Enthusiasmus, mit dem die sonst so großartigen Hymnen vorgetragen werden und dem Publikum nicht mehr als pflichtschuldigen Beifall entlocken können. Schade für eine Band, deren Potential um ein vielfaches höher ist, als die meisten Bands, denen momentan bedeutend mehr Beachtung geschenkt wird. Und so dauert der Auftritt, der in einem anderen Rahmen für wahre Begeisterungsstürme hätte sorgen können, nur etwas länger als eine halbe Stunde.

How long has it taken for you to look so fine, fine, fine, fine, fine.“

Maximo Park sehen verdammt gut aus auf der Bühne. Das liegt jedoch nicht an ihren körperlichen Vorzügen oder an ihrer Aufmachung, allenfalls Sänger Paul Smith verweist im perfekt paul smith sitzenden Anzug auf das momentan so hofierte Lad-Ideal. Vielmehr präsentieren sie sich als eine Einheit, sie fühlen sich wohl in ihrer Rolle und scheinen ihren Platz auf der großen Bühne genau zu kennen, obgleich sie vor einem Jahr noch in kleinen und verrauchten Kellerclubs spielten. Und trotzdem ist kein Hauch von Arroganz zu bemerken, Paul Smith weiß, was sich gehört und seine sehr freundlichen Ansagen verströmen eine äußerst sympathische Art von Charme, wie sie einem Pete Doherty völlig abgeht.

Auch ist der Ausdruck Show bei Maximo Park nicht als einstudierte Bühnenpräsentation, Effektspielerei oder gar das Ausleben billiger Rock’n’Roll-Posen zu verstehen. Die Band strahlt eine fast schon unheimliche Energie aus und Paul Smith führt in ekstatischen Bewegungen vor, wie nachhaltig sich die Vorteile des Kinderturnens auszahlen.

Zu Gute kommt ihnen dabei, dass der Sound von Beginn an besser ist, als jener der Vorband, wenn auch dank der ungünstigen Halle bei weitem nicht optimal. Vom Opener Signal and Sign an lassen Maximo Park es mächtig krachen, ohne dabei die Kontrolle über auch nur einen einzigen Ton zu verlieren. Durch präzises Zusammenspiel und mit einer unwahrscheinlichen Dynamik feuern sie einen Song nach dem anderen ins Publikum, jeder Song ein Hit. Dass sie mit The Coast Is Always Changing einen der größten Hits bereits ganz zu Beginn auspacken können, spricht dabei nur für sie. Der Auftritt hat keinerlei Tiefpunkte, steht’s geht es immer weiter nach vorne und das im Vergleich zu anderen Städten weniger ekstatische Publikum nähert sich immer mehr dem Adrenalinspiegel der Band an, selbst die in die Setlist eingestreuten B-Seiten fügen sich nahtlos in die Show ein.

"What happens when you lose some pressure? Apply some pressure!

Gerade bei Apply Some Pressure kennt dann auch das Publikum kein Halten mehr und alle Hemmungen gehen verloren. Zu guter Letzt offenbart sich Going Missing als besonderes Bonbon, mit dessen großem Knall das Konzert seinen Abschluss fand. Zwar mögen die knapp 70 Minuten kurz erscheinen, doch für eine Band, die gerade ihr Debüt ablieferte, ist dies eine fast schon bemerkenswerte Länge. Aber selbst, wenn man diesen Umstand außer Acht lässt, Maximo Park sind eine Liveband die ihresgleichen sucht. Wie bei kaum einer anderen Formation strotzen sämtliche Songs vor Ideen und packende Melodielinien, vorgetragen mit ausgesuchter Freundlichkeit und famoser Schlagkraft zugleich. Diese Band ist wirklich bedeutsam.
foto: landmark

maximo park
the new pornographers

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The Samuel Jackson Five [Easily Misunderstood]

Talking all that Jazz.
Nicht zwischen Samuel L. Jackson und den Jackson Five, wie uns der Name vielleicht glauben machen möchte, ist die Musik der fünf Norweger verankert, sondern doch eher zwischen Do Make Say Think und Tortoise.


"it sounds better than 'the plastic fantastic cyberchickens from outer space', i guess."
(stian tungerod über den bandnamen)


Das "Amateur" ist ein alter Pub in Oslo, der gemeinsam mit dem olympischen Dorf für die Winterspiele von 1952 errichtet wurde und heute wenig Bedeutung hat. Das Amateur hatte jedoch nach den, besonders für das eigene Land sehr erfolgreichen Spielen, noch einen weiteren, kulturellen Höhepunkt; Ende der Sechziger und Anfang der Siebziger Jahre wurde es als Aufnahmestudio genutzt, in welchem der norwegische Saxophonist Jan Garbarek seine ersten Alben einspielte und damit nicht nur bis heute die skandinavische Jazz-Szene beeinflusste, sondern auch maßgeblich an deren Begründung beteiligt war. Ein legendärer Ort also, den sich die Samuel Jackson Five auswählten, um ihr zweites Album einzuspielen. Und die Jazz Einflüsse sind nicht zu überhören, auch wenn sich das Quintett eigentlich an ganz anderen musikalischen Orten bewegt.

Als ich das erste Mal über den Namen dieser Band stolperte, wurde ich bereits Aufmerksam und hatte ein gewisses Interesse. Obwohl solche Bandnamenkonstellationen in letzter Zeit ja relativ präsent sind. Man widmet den eignen Namen einer Persönlichkeit, mit der die Musik als Solche meist nichts gemein hat. The Brian Jonestown Massacre. The Stephen Malkmus Experience. Samuel L. Jackson – wie gut, dass man von dem Übernehmen des zungenbrecherischen L Initials im Bandnamen absehen konnte – ist an sich ja eher der prollige ActionJackson Typ, doch seit Pulp Fiction wohl über jede Kritik erhaben und somit eine ausgezeichnete Wahl. Dass The Samuel Jackson Five aus Norwegen stammen erhöhte mein Interesse ungemein, die Gründe dafür dürften musikethnologisch auf der Hand liegen.

Ein Titel wie Person Most Likely To Enjoy The Taste Of Human Flesh stellt das Quintett ganz klar in eine Tradition mit jenen Instrumentalbands, die ihren Drang nach Verbalisierung in den Songtiteln auszuleben scheinen. Zwischen politischem Statement (vgl. Godspeed You! Black Emperor) und semiotischen Nonsens (vgl. Mogwai) steht für die Band in dieser Hinsicht der interessierte Umgang mit Begriffen im Mittelpunkt. "Thomas (Kaldol, Gitarist der Band, Anm. d. Verf.) spielt gern mit Worten und deren Bedeutungen oder überträgt Film- und Fernsehzitate in unseren Kosmos", erklärt Schlagzeuger Stian Tungerud im Gespräch. "Die meisten unserer Titel haben also in gewisser Weise eine tiefere Bedeutung oder wenigstens eine gute Geschichte dahinter." Ein ausnahmslos instrumentales Album mit dem Titel "Easily Misunderstood" zu versehen ist vielleicht eine dieser ironisch zwinkernden Spielereien.

Musikalisch grenzt man sich von den meisten Postrock Bands insofern ab, als dass die fünf Herren aus Oslo und Umgebung geschickt einen klaren Jazz Einfluss in ihre klanggewaltige Musik integrieren. Nicht ganz so exaltiert wie die ebenfalls aus der Umgebung von Oslo stammenden Jaga Jazzist und weniger vordergründig wie die Briten vom Cinematic Orchestra, aber doch als prägnantes Stilelement. Jazz im Sinne von Improvisation einzelner Instrumente. Im Sinne von Polyrhythmik und Call and Response Elementen. Im Sinne von kreativer Freiheit. Im Sinne einer Öffnung des Postrock, weg vom Laut-Leise Spiel zwischen introvertierter Detailliebe und extrovertierter Explosion, hin zu einer Variationsoffenheit mit unverschämtem Groove. Der Freejazz Exzess in erwähntem Stück, der sich irgendwo zwischen gemäßigtem Art Ensemble Of Chicago und Herbie Hancock bewegt, könnte viele Hörer zunächst abschrecken, aber man möchte sich mit der eigenen Musik klar nonkonformistisch geben.

Auch wenn Bläser, Streicher, Glockenspiel und vor allem das Klavier allesamt niemals als bloßes Beiwerk oder freie Füllung Verwendung finden, sondern bewusst gleichberechtigt zu dem üblichen Instrumentarium verstanden werden, atmet die Platte mit jedem Takt Rock und weist ihn dennoch im gleichen Moment wieder von sich. Ob plötzlich hervorbrechend treibende Grooves (Unimog), das impulsive Klavier als Rhythmusinstrument (Easily Missunderstood) oder das hervorragende Arrangement der Streicher, dass sich immer wieder mit verzerrten Gitarren abwechselt (Michael Collins Autograph); die daraus entstehende Demontage bleibt ohne Frage bis ins Detail hörenswert und kann das Niveau nur an sehr wenigen Stellen nicht zur vollen Zufriedenheit halten.

Das an den englischen Künstler Andy Goldsworthy denken lassende Cover Artwork und die im Booklet befindlichen Grafiken von einer seltsam anmutenden und auch um 180 Grad gedreht funktionierenden Landschaft, erfassen die Musik der Band vielleicht auf eine stimmig-entrückte Weise. Zwischen Verwirrspiel und organisch harmonischem Ganzen bewegt man sich, was mir niedergeschrieben wenig erklärend scheint. Easily Misunderstood. Worte eben.
foto: knut neerland



the samuel jackson five
"easily misunderstood"
honest abe 2005 cd
the samuel jackson five

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LipService [Cardboard Robots]

Wider die Bedeutungslosigkeit?
Auf dem Cover ihres Debütalbums rollt das Quartett metaphorisch eine überdimensionale Bowlingkugel durch die Straßen einer Stadt, deren Bewohner ihre Köpfe unter ausdruckslosen Pappkartons verstecken.



"saturate this migrane with gasoline, i'm coming clean."
(red shift)


"Read my lips: no more taxes!", versprach George Bush Senior 1988, als er den Wahlkampf gegen seinen demokratischen Kontrahenten Michael Dukakis antrat, gegen welchen er später auch mit einem deutlichen Sieg gewinnen sollte. Natürlich konnte er sich während seiner Amtszeit nicht an sein Versprechen halten.
Lippenbekenntnisse.

Wenn sich eine Band mit genau diesem Namen schmückt, dann muss dahinter schon eine toughe Attitüde stecken. Es geht also um Rock . Die maskuline, testosterongesteuerte Ausgabe eines abgegriffenen Genres, welches - so lehrt uns bereits Philip Seymour Hoffman als Journalist Lester Bangs in Cameron Crowes Film "Almost Famous" - vorbei ist, und von dem man 1973 lediglich noch den letzten Atemzug erleben konnte. Die vier Herren aus Trier entfalten auf ihrem Debüt Album "Cardboard Robots" - eine Anspielung auf den ehemaligen Bandnamen, den die Musiker bis Februar 2005 trugen – gut produzierte, Gitarrenriff getragene, solide Rockmusik und werden im Pressetext, der "pop-induzierten Punkrock" zu erkennen weiß, über alle Maßen gelobt. Besonders die Live Darbietung wird gesondert hervorgehoben, und auf dem vorliegenden Videomitschnitt kann man die "physikalisch geerdeten" Emotionen der Band, welche maßgeblich von ihrem Sänger transportiert werden, beobachten. So scheint es kaum verwunderlich, dass sich dieses Energiebündel während dem Stück enthusiastisch auf den Boden wirft, um seinen Gefühlen Nachdruck zu verleihen. Auf den liebevoll als Waschzettel jargonisierten Pressemitteilungen ist diese Lobhudelei natürlich keine Seltenheit, wird doch stets der nächste große Wurf skandiert, welcher die Musikwelt in den Grundmauern erschüttern wird, nur um kurz darauf festzustellen, dass immer heißer gekocht wird, als gegessen.

Im Falle von LipService entschied man sich gegen die blanke Selbstdarstellung und bat die Macher vom Onetake.de Magazin sich der Aufgabe anzunehmen, die Musik der Band in Worte zu fassen. "Das Musikbusiness ist", so wird dort von Daniel Hecktor eingeleitet, "eine kleine billige Hure, die mit jedem in die Laken steigen würde, wenn der Preis stimmt. Nun, in einer perfekten Welt würde sie für LipService mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht die Beine breit machen […] und ich bin mir sicher, dass die kleine, billige Hure auch dann noch lächelt, wenn von LipService nur noch das Kleingeld auf dem Nachttisch übrig ist." Eine durchaus fragwürdige Utopie, diese hier ersonnene "perfekte Welt", in welcher man die "kleine billige Hure" mit etwas Kleingeld nach dem bezahlten Geschlechtsakt glücklich machen kann. Eine chauvinistische Perspektive, die hier im Bezug auf das überstrapazierte Rockklischee mit Sexismus kokettiert, und nur schwerlich als flapsige Metapher für Gut geheißen werden kann.

Auch der letzte Song des Albums, Uma, welcher sich als einziges Stück über die 3-Minuten-Grenze hinaus wagt, bedient diese oberflächlichen, patriarchischen Strukturen, wenn Sänger Mick Buonaz darin leicht prollig "I met a girl by name of Betty / and this babe Betty so pretty she was / I met a girl by name of Jane / and this chick named Jane was into pain", singt. Übrigens verfliegt der Hauch von objektiver Betrachtung durch ein unvoreingenommenes Medium recht schnell, wenn man sich vor Augen führt, dass "Cardboard Robots" als Eigenproduktion bei Onetake Records erschienen, und Onetake Magazin Chefredakteur Daniel Hecktor die Band resümierend als "verfickt gut" zu loben weiß.

Zusammenhangslos und isoliert erscheint dann das thematisch eher politisch einzuordnende Stück El Cortito, in welchem kurz César Chávez angesprochen wird, der US amerikanische Gewerkschaftsgründer, welcher Mitte der Siebziger Jahre das Verbot der Benutzung einer sehr kurzen Hacke, der Cortito, in der Landwirtschaft durchsetzen konnte, da diese eine enorm gebeugte und gesundheitsschädliche Körperhaltung provozierte. Erfreulich zu beobachten, dass man sich mit gesellschaftswissenschaftlichen Themen auseinandersetzt, aber weshalb mit einem längst verjährten Thema? Und in welchem Zusammenhang steht dann die potentielle Wut, die sich in Zeilen wie "the sound of quarreling neighbours / makes me fuckin sick! / through their window I will throw a big fuckin red brick!" (The Wet One) entläd?

Was am Ende bleibt sind elf, zumindest in der zeitlichen Dimension, Punk orientierte Rock Stücke, die auch bei der ab und an aufblitzenden ambitionierten Melodieführung und den soliden, leider pragmatischen und wenig innovativen Songstrukturen letzten Endes an der aufgesetzt wirkenden Attitüde scheitern und deren Vergleiche mit den eher ironisch daherkommenden Foo Fighters oder gar den Queens Of The Stone Age (Allschool Network) nur hinken können.
Lippenbekenntnisse.
foto: lip service



lip service
"cardboard robots"
one take records 2005 cd
lip service

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David O. Russel [I ♥ Huckabees]

Not und Tugend.
Da wir leider nicht relevant genug erschienen, um von Fox Searchlight Pictures für eine Film Besprechung des aktuellen Werkes von David O. Russel akkreditiert zu werden, haben wir kurzerhand einen Außenkorrespondenten zu einem Interview mit Bernard Jaffe entsendet.


"how am i not myself?"
(brad stand)

Ich komme mir ein wenig wie im vertrackten, und surreal anmutenden sieben einhalbten Stockwerk des Merton Flemmer Gebäudes vor, in welchem die Lester Corporation fast unbemerkt ihren Sitz hat, als ich mich in das Gebäude im Circle Drive 7025 begebe. Es ist ein wenig wie in einem Labyrinth, wenn man den immer gleichen Gängen folgt, bis man irgendwann, wie durch Zufall vor der Tür steht, die man die ganze Zeit gesucht hat. Suite 909; "Jaffe & Jaffe" steht auf einem glänzenden Metall Schild. Exitential Detectives.

Ich betrete das helle Wartezimmer und gehe auf eine junge Empfangsdame zu. Die hoch gewachsene, blonde Frau blickt kurz in den Terminkalender und bittet mich dann einen Augenblick Platz zu nehmen, da Mr. Jaffe noch in einer Besprechung ist. Neben mir sitzt ein Mittfünfziger in einem Unterhemd. Beide Oberarme sind mit grünlichen Tätowierungen verziert. In der mir gegenüberliegenden Ecke des Raumes brummt fast unbeachtet ein Ventilator.

"Mr. Jaffe erwartet sie jetzt", entgegnet mir die junge Dame Augenblicke später, und weist auf eine Tür. Bernard Jaffe empfängt mich in seinem Büro. Er sitzt hinter einem hellen, aufgeräumten Schreibtisch aus Birkenholz und steht auf, um mir die Hand zu geben. "Freut mich sie zu sehen", lächelt er. Jaffe ist Mitte Sechzig und trägt einen dunklen Nadelstreifenanzug und eine rot-schwarz gestreifte Krawatte. Die Ärmel seines weißen Hemdes sind nicht zugeknöpft, stattdessen hat er sie leicht nach oben geschoben. Beinahe über die gesamte Breitseite der Wand hinter Jaffes Schreibtisch erstreckt sich eine riesige Tafel wie ein Gemälde, auf welcher unzählige, angedeutete Rechtecke mit Kreide gezeichnet sind. Durch das wandhohe Fenster flutet das vormittägliche Licht in das Büro. Bernard Jaffe arbeitet seit 17 Jahren mit seiner Gattin Vivian Jaffe als existentieller Detektiv. "First In Buisness" kann man stolz auf dem Firmen Logo lesen.

Wie es die Höflichkeit erfordert tauschen wir zunächst einige Oberflächlichkeiten aus, bevor wir uns intensiver unterhalten können. Er erklärt mir, dass das penible Beobachten eines jeden seiner mittlerweile über 300 Klienten zur Erörterung der individuellen Fragestellungen führt. Wie die Umkehr der eigentlichen Arbeit eines Defektives erscheint der berufliche Alltag von Jaffe & Jaffe.
"Wie sieht die Konkurrenz aus?", frage ich ihn.
"Es gibt Wenige die sich auf unser Terrain begeben, ohne zu straucheln. Viele Klienten begeben sich zunächst zu Therapeuten und Psychiatern, bevor sie erkennen, dass das eigentliche Problem nicht in dysfunktionalen Familienverhältnissen oder unterdrückten Sexualfantasien, sondern in der Welt selbst liegt."
Es ist bekannt, dass zwischen Bernard Jaffe und der Französin Catherine Vaubon, ihrerseits auf eine ähnliche Weise in Frankreich beruflich aktiv, ein intellektueller Misskredit besteht, über welchen gern geschwiegen wird.
"Woran liegt es, dass Sie auf die französischen Philosophin Vaubon nicht gut zu sprechen sind, Mr. Jaffe?"
Er setzt seine zierliche Lesebrille ab, steckt sie in die Brusttasche seines Jackets, lehnt sich, auf dem Schreibtisch abgestützt nach vorn und faltet die Hände. Seine dunklen, klaren Augen schauen wach unter seinem bereits ergrauten Pagenkopf hervor.
"Sehen sie", entgegnet er ruhig mit gekräuselten Lippen, "Catherine Vaubon betrachtet alles aus einem anderen Blickwinkel. Und das ist eigentlich gut so. Meine Frau und Partnerin Vivian zum Beispiel ist Existentialistin. Sie geht davon aus, dass sich jeder Einzelne durch sein spezifisches Verhalten gegenüber sich selbst, anderen Menschen und der Welt verwirklicht. Ich betrachte die Dinge gern etwas anders und dennoch, wir beide ergänzen uns ganz ausgezeichnet. Es gibt viele Wege die man ausleuchten muss, um sich auf den weisesten Pfad zu begeben. Sehen sie, Catherines Ansichten zufolge steht das Nichts hinter Allem; ein Standpunkt, der in der Geschichte der Philosophie zu meinem Unverständnis von einigen skurrilen Persönlichkeiten geteilt wurde. Doch das Sein und das Nichts überschneiden sich." Er hält kurz inne und schaut mich an.
"Was denken sie ist das reine Sein?"
Ich fühle mich überfordert und schaue ihn vermutlich einige Sekunden mit großen Augen an, überzeugt davon, gleich etwas zu sagen. Dann erlöst er mich.
"Genau", lächelt er und stimmt mir - um mich damit vollends zu verwirren - zu.
"Das reine Sein enthält zunächst Nichts. Es ist kein Mobil Telefon, kein Schoko Keks und auch kein fünf Sekunden Orgasmus. Das reine Sein an sich enthält Nichts. Das reine Nichts enthält jedoch sich selbst, und macht aus dem Nichts etwas Seiendes. Ich bin der Überzeugung, dass eine übergreifende Verbindung existiert, eine höhere Identität, welche sowohl die Identität als auch die Nicht-Identität enthält."
Die Nicht-Identität? Dies übersteigt meinen gegenwärtigen Horizont bei weitem. Jeder Mensch hat eine eigene Identität denke ich bei mir, und bisweilen liegt es einem jeden sehr daran, seine eigene Identität besonders hervorzuheben. Eine Nicht-Identität jedoch? Wie kann ich nicht ich selbst sein? Während ich nachdenke, ist Bernard Jaffe aufgestanden und hat aus einem Schrank ein Bettlaken geholt, was er jetzt vor mir ausbreitet.
"Sehen sie, dieses Laken hier umfasst uns alle. Das hier sind sie", er hebt unter dem Laken eine Hand. "Das hier drüben bin ich. Und das hier ist der Eifelturm. Paris, verstehen sie?" Ich kann nicht umhin ihn verwundert anzulächeln. "Und das hier ist ein Krieg, das ist die Milchstraße, das hier ist eine Krankheit und das ist ein Hamburger. Verstehen sie? Es gibt keinen Rest in der Mathematik der Unendlichkeit. Wir alle sind Teil des Ganzen, und das mein junger Freund, dürfen sie niemals aus den Augen verlieren."
Ich staune nicht schlecht. "Wo denken sie befinden sie sich im Augenblick? In einem Raum, einer Stadt, einem Land? Das mag sein. Warum springen Menschen aus Flugzeugen oder nehmen Drogen? Sind sie auf der Suche nach sich selbst? Auch das mag sein. Aber ist es die ganze Wahrheit?"
Die Tür öffnet sich und eine Dame mit schulterlangen schwarzen Haaren und einem schwarzen Kostüm tritt herein.
"Darf ich vorstellen", setzt mich Jaffe in Kenntnis, während er auf die Dame zugeht, "meine Frau und Partnerin Vivian Jaffe. Endschuldigen sie mich einen Augenblick". Verlegen lächle ich. Die beiden tauschen einige Worte miteinander, küssen sich kurz und Vivian Jaffe verlässt das Zimmer.
"Ich bin untröstlich, doch leider muss ich mich auf den Weg machen. Ein Kunde von uns befindet sich in einer Gewissens Krise dritten Grades. Es hat mich sehr gefreut sie kennen zulernen."
Er gibt mir die Hand, hält mir die Tür auf, und ich kann mich nur noch verabschieden, anstatt ihn nach der großen, ganzen Wahrheit zu fragen, von der er eben gerade noch sprach. Beim Verlassen des Gebäudes schwirren meine Gedanken wild durcheinander und ich bemerke nur im letzten Augenblick, dass mich beinahe ein weißer Lastwagen überfahren hätte. Eine blonde Frau lächelt mich überlebensgroß von der weißen Plane aus an und in bunten Lettern prangt I ♥ Huckabees auf der Breitseite.
text: Cosmo Kramer
foto:
20th century fox


david o. russel
"i ♥ huckabees"
2005

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600 Wörter [Schreibblockaden]

Vor gut einem halben Jahr wurde ich gefragt, ob ich denn nicht eine Kolumne für das lichter Magazin verfassen wolle. Jetzt findet ihr hier endlich meinen Text.
Warum es so lange gedauert hat und mehr in den nächsten 600 Wörtern...





Bisher dachte ich ja immer Schreibblockaden gibt es nicht, oder man bildet sich sowas nur ein. Aber Zack!, da hatte es mich selbst erwischt. Nun saß ich also da… eine Mappe mit ungefähr 20 halb fertigen Songs und 100 Songskizzen oder einzelnen Sätzen, die ich mal singen muss und dieser Text hier sollte auch mal fertig werden. Ich hatte auch schon ein Thema und ca. 400 Wörter geschrieben, aber irgendwo Mitendrinnen blieb ich hängen und wusste nicht mehr weiter. Dabei war das eigentlich ein gutes Thema. Aber: Faden verloren und aus war es.

Man beginnt dann nach Ursachen zu suchen. "Woher kommt diese Unruhe?", "Was hält mich davon ab zu schreiben?" und auch: "Woher nehme ich neue Ideen?" Ich fühlte mich schrecklich unkreativ. Obwohl immer wieder das Gefühl aufkam, dass jetzt bald doch was kommen müsste. Da war doch so viel in mir, so viel das raus musste. Ablenkung war natürlich auch genug da, man muss ja schließlich "nebenbei" auch eine Schule abschließen und ach, die Frauen… Aber das gehört hier nicht hin.

Verschiedenste Masterpläne wurden also er- und durchdacht. Ein Konzept Album! Neue (Stamm-) Plätze zum schreiben (in der U-Bahn, in einem Alt-Wiener Kaffeehaus mit Live Piano Musik - das wäre wirklich ein schöner Platz zum schreiben - oder in irgendeinem Park - es wurde ja doch auch langsam wieder warm), ein Buch kaufen in das man immer mal wieder was schreibt… Das mit dem Buch hat noch nie funktioniert (ich habe 2 Bücher in denen jeweils ein Text steht), an öffentlichen Orten kann ich nicht schreiben, weil ich immer Angst habe, dass jemand meine Sachen liest oder denkt "Aha, der schreibt jetzt Texte! Sowas!" und ein Konzept sollte man sowieso immer haben.

Ich suchte Inspiration bei den großen Alten und habe viel Bob Dylan, Velvet Underground, Tom Waits und Beatles gehört und Lieder von ihnen selbst nachgespielt. Das einzige was passierte war, das ich immer wenn ich einen Text vertonen wollte, irgendeine Melodie geklaut habe. Funktionierte also auch nicht.

So. Was macht man also? Abwarten und Bier trinken! Vom Bier trinken mach ich mir nur Sorgen einen Bierbauch zu bekommen oder Alkoholiker zu werden. Und ich gehe rücksichtsloser durch Menschenmassen. Inspiration bringt mir das leider nicht. (Vielleicht sollte ich mal ein Lied über das Älterwerden und im speziellen: Angst vor einem Bierbauch schreiben. Das wäre mal was. Und da ich doch auch bald 20 bin, ist es vielleicht eine gute Zeit um mit den Liedern übers Älterwerden anzufangen.). Bleibt noch das Warten…

Vorhin gerade ist es passiert! Unter der Dusche. Ich dachte darüber nach, was ich denn alles zu tun habe und was ich tun könnte. Und da fiel mir auch dieser Text wieder ein. Und ich dachte an die Schreibblockade. Und dann dachte ich, dass es doch eigentlich ein gutes Thema wäre. Und nun sind es schon fast 500 Wörter darüber, dass ich nichts schreiben kann. Jetzt also nicht groß mit Fragen aufhalten "Warum funktioniert das jetzt?“ und „Moment, jetzt hab ich doch einen langen Text geschrieben… aber wie fülle ich jetzt die letzten 100 Wörter und kriege noch die Kurve zu etwas wirklich Gehaltvollem?", einfach weiter schreiben.

Und doch noch eine kluge Erkenntnis zum Schluss und ein bisschen ein Ratschlag, damit ihr auch was davon hattet euch durch diese Kolumne zu lesen: Gedanken sind oft mehr im Weg, als dass sie einen weiter bringen. Manchmal hält das Nachdenken einen zwar davon ab, dumme Dinge zu tun, aber man verpasst manchmal auch einiges. Man muss immer versuchen, sich an einem guten Gedanken festzuhalten, sich nicht von dem ganzen anderen Gedankenwirrwarr ablenken zu lassen und den Gedanken zu Ende bringen.
Text: Martin Konvicka
illustration: heiko windisch

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