Immergut Festival [Neustreliz, 26.-27.05.2006]

Alle Jahre wieder: Mit dem Immergut Festival wird zum einen traditionell die Festivalsaison eingeläutet, zum anderen klopft regelmäßig am letzten Maiwochenende der Sommer an die Tür. Und auch dieses Jahr schien zunächst alles in gewohnten Bahnen zu laufen.


"you've got such a nice festival here."
(moneybrother)

Bereits Ende März waren sämtliche der rund 5000 Tickets vergriffen, auch das Line-Up nahm mit Bands wie den Yeah Yeah Yeahs, Okkervil River und Die Regierung bereits frühzeitig erfreuliche Konturen an. Doch ebenso wie das aktuelle Album von Blumfeld, die bemerkenswerter Weise zum ersten Mal in Neustrelitz auftraten, polarisierte schließlich doch noch das Buchen einer Band die Anhängerschaft des Festivals: Mia, die deutschpoppenden Kuschelpatrioten, waren eingeladen worden, ein kontroverser aber vor allem auch fragwürdigerer Act hätte wohl kaum angekündigt werden können. Da geriet auch die Regen versprechende Wettervorhersage fast schon in den Hintergrund. Besonders pikant war die Tatsache, dass ebenfalls auftretende Bands wie Blumfeld und Phantom/Ghost eine dezidiert antinationalistische Position vertreten, welche bis vor wenigen Jahren in der sich als progressiv empfindenden Independent-Szene noch Konsens war.

Dass ein Wandel nicht nur auf, sondern vor allem auch vor der Bühne stattfand, wurde bereits beim Betreten des Zeltplatzes deutlich: Neben den unvermeidlichen Kuba- und FDJ-Fahnen konnten auf einmal auch Deutschland-Flaggen gesichtet werden. Ob "
nur" die WM ihren langen Schatten voraus warf oder nicht: Der unangenehme Beigeschmack blieb. Doch flatterte der Stoff, in welchen patriotische Heimatduselei gehüllt wird, unbehelligt im Wind, der wider Erwarten zunächst keinen Regen mit sich brachte. Die Prognosen hatten Tags zuvor noch 70% Regenwahrscheinlichkeit versprochen, nun riss die dichte Wolkendecke immer wieder auf und es waren noch ein paar Sonnenstrahlen zu erhaschen.

Die Bands
Midlake und Klez.e ereilte das Schicksal, welches in der Regel alle eröffnenden Acts trifft: Dank Umleitungen, Stau und Einkauf waren so manche Besucher noch mit Taschenschleppen und Zeltaufbau beschäftigt, die Akustik auf dem Zeltplatz ließ aber erahnen, dass da durchaus zwei interessante Auftritte verpasst wurden. Bereits als dritter Act trat mit Radio 4 einer der größeren Namen auf, zu früh, wie sich herausstellen sollte. Die New Yorker gaben sich zwar engagiert, es wurde eine Tanznummer nach der anderen abgefeuert, doch der Funke wollte nicht recht überspringen. Zu groß schien die Bühne, zu weit der Raum davor. Zu später Stunde im Zelt wäre wohl ein angemessener Moment gewesen. Doch gerade am Freitag war das Line-Up hochkarätig besetzt.

Einen gefeierten wenngleich nur mäßig charismatischen Reunion-Gig boten die
Flowerpornoes, anschließend zeigten Art Brut, wie man eine Menge zum Feiern bringen kann. Der Drummer stehend, Eddie Argos torkelnd und ungezwungen locker: Die Band spielte wie die Fans feierten und ganz mit reichlich Augenzwinkern wurde das Erfolgsziel namens Top Of The Pops beschworen. Sympathischer kann Rock’n’Roll kaum sein.

Später betrat eine in gleißendem Weiß gekleidete und überaus gut gestimmte Band die Bühne, welche sich das Festivalteam schon seit Jahren ersehnte.
Blumfeld übertrugen eine Auswahl von Stücken aus einer ganzen Dekade Musikgeschichte auf die Bühne und witzelten selbst über ihren jüngsten Hit, den viel diskutierten Apfelmann. "Obst ist Kult", ging es einem fröhlichen Jochen Distelmeyer von den Lippen, wobei das Publikum ähnlich den vorangegangen Plattenkritiken zu Verbotene Früchte entweder jubelte oder nur entgeistert den Kopf schüttelte. Mehr Bipolarität war nie! Doch mit der Intonation ihres Über-Songs Verstärker zogen Blumfeld zum Schluss auch den skeptischen Teil des Publikums auf ihre Seite.

Als "
Your favourite vegan / straight edge band" wurden The Appleseed Cast angekündigt, doch statt brachialem Hardcore gab es ein Postrock-Gitarrengewitter auf die Ohren. Zum ersten Mal hatten die Mischer größere Probleme, zu stark verschwammen ausdifferenzierte Gitarrenwände in einem einzigen Soundbrei. Zwar stieß der Auftritt auf großes Interesse, doch verblasste er ein wenig angesichts des zu erwartenden Hauptacts. Die Yeah Yeah Yeahs scheinen im Moment wohl einer der relevantesten Acts überhaupt und dies unterstrichen sie eindrucksvoll. Karen O erhob sich in dämonischem Kostüm über dem Publikum, ihr Posing nahm eine artifiziell-dominante Charakteristik an. In durch und durch amerikanischem Soundverständnis fielen Keyboards und zerrissene Gitarrenriffs übereinander her, Lärmkaskaden wurden von der Bühne heruntergeschleudert. Dieser auftritt war von einer Größe, wie er auf dem Immergut zuletzt The Notwist im Jahr 2004 gelungen war.

Als deutlich verhaltenerer und intimerer Auftritt erwies sich wie erwartet das Konzert von
Gregor Samsa, die im Anschluss in der Zeltbühne ihre elegischen Stücke voller Poesie und Verzweiflung präsentierten. Einen minimalistischen Abschluss des Abends boten schließlich Phantom/Ghost. Dirk von Lotzow wirkte neben Thies Mynther ausgeglichen wie selten, auch wenn der Auftritt musikalisch ungewöhnlich stark holperte. Der einzige elektronische Act des Wochenendes war dennoch eine äußerst willkommene Abwechslung, wirkte der Auftritt doch so unbeschwert, als ob das Duo einen Wohnzimmergig unter Freunden spielte.

Nun war zwar für Samstag verhalten Sonnenschein vorausgesagt, doch stattdessen bedeckten dunkle Wolken den Himmel. Nichtsdestotrotz wurde das traditionelle Immergutzocken Fußballturnier abgehalten, eventuelle Badeseebesuche fielen jedoch buchstäblich ins Wasser. Den ganzen Tag über war immer wieder leichter Nieselregen zu spüren, wenn auch kaum jemand befürchten musste, vollkommen durchnässt zu werden. Gleichsam unspektakulär verliefen die ersten Auftritte im Nachmittagsprogramm, einzig die
Fotos stießen auf größeres Interesse. Anschließend wurde der Künstlerreigen aus dem Umfeld von Arts & Crafts eröffnet.

"
Ich finde es toll, dass ich hier bin, ich meine, ich habe nicht mal eine Platte veröffentlicht, lucky me", strahlte Amy Millan, deren countryeske Songwriter-Balladen von einer ganzen Horde von Musikern begleitet wurden. Die Frontsängerin der Stars beackerte hier ein Terrain, welches man von ihren bisherigen Projekten in keiner Weise kannte. Das Publikum applaudierte im weichenden Sonnenschein, als Band- und Labelmate Jason Collett die Bühne betrat. I Bring The Sun sang er dann zwar optimistisch, aber der Regen hielt an, der nach seinem Auftritt das Publikum noch schneller als gewohnt ins Zelt trieb. Dort lieferten die Texaner von Okkervil River einen enthusiastischen Auftritt ab, der schon bei den ersten Klängen Großes vermuten ließ. Furiose Hymnen über Herzensbrecher, Mörder und andere Außenseiter wurden mit melancholischem aber leidenschaftlichen Gestus erzählt, nur durch den dröhnenden Soundcheck auf der Hauptbühne unterbrochen. "Ladies and Gentlemen, this is Mia", konstatierte der smarte Will Sheff so auch in einer der gestörten ruhigen Augenblicke seiner Band. Im eigenen Befremden bestätigt waren so manche, als Mia mit Sprüchen wie "Wir finden es geil, wie ihr dem Regen trotzt" oder "Seid Ihr gut drauf?" einer doch recht großen Fanschar einheizten. Über Musikgeschmack lässt sich bekanntlich trefflich streiten, doch politisches Feingefühl ist eine Gabe, welche die Veranstalter hier offensichtlich missen ließen. Ironie des Schicksals war es wohl, dass ausgerechnet Die Regierung anschließend im Zelt ihre Reunion zelebrieren sollte, eine Band die der Zeit entstammt, in der sich die "Indieszene" zu Deutschland noch deutlich emanzipatorischer verhielt, nämlich mit kritischer Distanz. So war es kaum verwunderlich, dass das Publikum im Zelt frenetisch applaudierte, als Sängerin Mieze verkündete, dass Mia keine Zugabe spielen dürfe. Eben jenes Publikum sorgte ebenso dafür, dass ein betrunkener aber dennoch schlagfertiger Tilman Rossmy und seine Regierung gleich zweimal zurück auf die Bühne mussten, um eine Zugabe zum Besten zu geben. Dies könnte man als Festivaldemokratie bezeichnen, oder auch als klare Ansage gegen den patriotisch-heimatlichen Wohlfühlfaktor. "Gib Dich nicht mit weniger zufrieden!"

Der Wohlfühlfaktor, den
Tomte vermittelten, hatte zwar keinen negativen ideologischen Beigeschmack, doch mehr als Nettigkeit und der Erinnerung an vergangene Tage blieb nicht hängen. Vielleicht gibt ihnen der Erfolg Recht, doch bei aller Ehrlichkeit (und-sei-sie-nur-aus-Bier) und jahrelanger Rackerei: Der Auftritt zeigte in klarer Weise die Stagnation und Belanglosigkeit auf, der sich Tomte mittlerweile ergeben haben. Ein Großteil des Publikums fand Gefallen daran, aber alte Helden lässt man ja auch nur ungern fallen.

Bedeutend ungewöhnlicher und spannender hingegen war der Anblick der bezaubernden Leslie
Feist. Nur mit Gitarre und Loop Pedal ausgestattet spielte und sang sie, setzte einzelne Songspuren zusammen, bis sie ein Ganzes ergaben. In ihrem Minimalismus bot sie das Sequel zu Phantom/Ghost am Vortag und stimmte das Publikum dezent auf das große Finale auf der Hauptbühne ein. Dort traf sich zum Schluss die ganze Arts & Crafts Familie unter dem Banner der Broken Social Scene. Schaffte das Team der Kanadier noch beim mittäglichen Immergutzocken den Weg ins Finale, wirkten die Musiker gegen ein Uhr nachts sichtlich angeschlagen. Doch ein stellenweise überambitionierter Kevin Drew trieb die Band immer wieder an. Teilweise bis zu fünf Gitarren, Bläser, Bass, zwei Drummer, Violine und Keyboard erschufen einen riesigen Klangraum, der gelegentlich ein wenig außer Kontrolle geriet. Und so beschloss die Broken Social Scene ihren Auftritt erst nach zwei Stunden mit einem grandiosen Finale, bei welchem sich künstlerische Individuen wie Amy Millan und Stars Kollege Evan Cranley , Jason Collett oder Leslie Feist nahtlos einreihten, als sei dies ein Orchester, welches auf jeden einzelnen Part angewiesen ist.

So lässt sich von einem mehr als würdigen Abschluss für das immergut Festival 2006 sprechen, welches musikalisch einmal mehr über weite Strecken überzeugen konnte. Strukturell bleibt jedoch ein fader Beigeschmack, denn zu einem schönen Festival gehören nicht nur schöne Musik und gute Stimmung, sondern auch das Gefühl, den Menschen und Bands in innerer Haltung verbunden zu sein. Doch dies schien dieses Jahr ein wenig schwerer zu fallen als sonst.
text: Martin Boehnert + Simon Traut
foto: martina drignat



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