Süddeutsche Zeitung [Diskothek]

Nach den literarischen und cineastischen Betrachtungen, geht die Redaktion des Süddeutsche Zeitung Magazin mit einer neuen, aufwendig produzierten Reihe auf die Geschichte der popkulturellen Entwicklung der letzten fünfzig Jahre ein.


"'stand by your man' drückt natürlich genau das aus,
was konservative männer 1968 hören wollten.
"
(tammy wynette über besagtes stück)


Im Zeitalter der digitalen Datenverwaltung würde es beinahe wie ein überholtes Relikt erscheinen, dass man seine Plattensammlung akribisch ordnet, wenn es nicht die phonophilen Nerds gebe, von welcher Gruppe sich auch der Autor nicht distanzieren kann. Für diese Obsession gibt es die unterschiedlichsten Ordnungsprinzipien, sei es nun nach einem über-sichtlichen alphabetischen System, oder dem Charakter Rob Flemming aus Nick Hornbys Roman High Fidelity entsprechend: "Heute Abend schwebt mir etwas anderes vor, und ich versuche mich zu erinnern, in welcher Reihenfolge ich die Platten gekauft habe"; eine autobiographische Ordnung. Die SZ Magazin Redaktion der Süddeutschen Zeitung hat es sich nun zur Aufgabe gemacht eine, analog ihrer bereits etablierten und von anderen Zeitungen aufgegriffenen Bibliothek sowie der weniger Beachtung geschenkten Cinemathek, eine SZ Diskothek zu erstellen, bei welcher sie die Musik in einer chronologischen Ordnung erfassen. Weiter noch, die Redaktion unternimmt den Versuch, jedes einzelne Jahr, von 1955 bis 2004 einzeln zu betrachten, den pophistorischen Hintergrund aufzuführen und die, wie sie es nennen, "besten 20 Songs" eines jeden Jahres vorzustellen. Großspurig wie ein Noel Gallagher verkündet man so auch gern über sich selbst, dass diese "ultimative Anthologie der Popmusik [….] auf Jahre hin Maßstäbe setzen wird."

Der jeweils rund 80-seitige Band stellt das Jahr in fünf Teilen vor. Zunächst durch ein zusammenfassendes Essay, welches das Jahr selbst betrachtet, eine diesem angeschlossene Fotostrecke, ein, mit "Das Fundstück" bezeichneter Zeitungsartikel oder Interview aus dem jeweiligen Jahr, eine Vorstellung der, wie sie dargestellt werden, "20 besten Songs des Jahres", und zu guter letzt der im Buchrücken befindliche CD mit eben diesen Stücken, welche exklusiv für die SZ Diskothek kompiliert wurde.

Für die essayistische Bestandsaufnahme eines jeden Jahres hat die Süddeutsche Zeitung, neben ihren eigenen Feuilleton Redakteuren, den ein oder anderen bekannten Namen wie Hans Nieswandt oder Ralf Niemczyk gewinnen können. Innerhalb dieser sorgfältig recherchierten Abhandlung erfahren wir Offensichtlichkeiten, aber auch Zusammenhänge, die man so vielleicht noch nicht betrachten konnte. Der Band 1968 sieht die Welt im Aufruhr und setzt die zeitgenössische Popmusik in diesen gesellschaftlichen Kontext. "Rock 'n' Roll ist die Speerspitze unserer Attacke", wird dort John Sinclair, der Manager der Detroiter MC5 zitiert. "Mit unserer Musik ziehen wir nichts ahnenden Spießern das Geld aus der Tasche und machen ihre Kinder zu Revolutionären." Die unterschiedlichen politischen Strömungen des Jahres werden eingefangen, ihre gesellschaftliche Relevanz erfasst und schließlich die popkulturellen Bewegungen als plakative Auswirkungen dieser Hintergründe impliziert. Das "Popjahr" befand sich im Spannungsfeld zwischen zynisch ironischer Gesellschaftsbetrachtungen von Frank Zappa und seinen Mothers Of Invention, den gerade aus Indien zurückkehrenden Beatles, einem politisch desinteressierten Mick Jagger und einer popkulturellen Ohnmacht in Deutschland, die sich besonders durch Heintjes Spitzenbelegungen in der Hitparade abzeichnete; seine Stücke Mama und Heidschi Bumbeidschi dominierten das Jahr 1968 in der jungen Bundesrepublik. Das Jahr 2000 wird vor dem Hintergrund des anbrechenden Millenniums und den damit heraufbeschworenen Superlativen beleuchtet. Das Ausbleiben des Y2K Crashes sowie des Weltunterganges im Allgemeinen haben eine unspektakuläre Dekade der Revivals ausgelöst die bis heute anzuhalten scheint. Musikalisch bewegte man sich in unseren Gefilden zwischen US Mainstream HipHop, alternden Ikonen wie John Bon Jovi oder Santana und vor allem dem Erschließen eines neuen Marktes; Durchschnittsbürger werden aus einem provozierten TV Kult als Pseudostars in die hiesigen Charts geschleust und penetrieren mit Dauerrotation jeden Haushalt. Allen voran die Big Brother Epigonen Zlatko Trpkovski und sein Kumpel Jürgen. Ansonsten weiß Tobias Kniebe über den Untergang der Tauschbörse Napster zu berichten und den damit beginnenden Ansturm immer neuer Pear2Pear Programme, welche den aktuellen Untergang der Musikindustrie als florierende Geldquelle mit einläuteten.

Im Gegensatz zu den angelegten Fotoreihen, die teilweise mit bekannten Fotos aus den jeweiligen Jahren und kurzen Fotostrecken, wie protestierenden Studenten auf dem gesamten Globus daherkommen, weiß das "Fundstück" zu überraschen. Hier versucht man, das jeweilige Jahr in einem zeitgenössischen Blickwinkel zu betrachten. Interviews, wie jenes der deutschen Zeitschrift Konkret vom November 1968 mit Frank Zappa, in welchem dieser zum Ende flapsig mit der Frage "Übrigens, wollen Sie Antichrist sein?" konfrontiert wird, oder einem Artikel über OutKast aus dem britischen Guardian im Jahr 2000, schildern in ihrer Funktion als Zeitzeuge ein aktuelles Verständnis der Popkultur im jeweiligen Jahr, und dokumentieren über die Zeit hinweg, wie sich dieses Verständnis verändern sollte; von der subkulturellen Jugendkultur hin zu einem der ergiebigsten Kapitalströme bis zum aktuell anhaltenden Niedergang eben dieser Branche.

Den Kern der Anthologie dieser fünfzig Jahre Popgeschichte, bilden die 1000 Songs, welche es über die gesamte Serie hinweg zu entdecken gibt. "Nie ist Popmusik bisher ausführlicher und schöner gewürdigt worden", behauptet man von sich selbst. Zu jedem Jahr benennt die SZ Redaktion gemeinsam mit Musik Journalisten die 20 besten Stücke, wobei die Auswahl auf den zugehörigen CDs sich stets zwischen Songs welche für die Repräsentation des Jahres nicht offensichtlicher sein könnten, und einigen Überraschungen bewegt, da man gewillt ist, eine gute Übersicht über unterschiedlichste popkulturelle Strömungen zu liefern.

Was an dem Soundtrack zu oben erwähnter Nick Hornby Verfilmung enttäuschte, nämlich dass der größte Teil der Songs, welche in dem Buch angesprochen werden, dort nicht vertreten sind, fällt auch an der SZ Diskothek auf. Werden im Band 1968 Country Joe & The Fish, die Fugs, Frank Zappas Mothers Of Invention sowie die bereits benannten MC5 als die vier herausragenden Bands mit direktem politischen Ansatz gehuldigt, findet sich leider kein einziges Stück dieser auf der Kompilation wieder. In dieser Hinsicht darf man sich durchaus einen direkteren Bezug zwischen Essay und der Zusammenstellung der 20 Stücke wünschen, denn dieser Aspekt könnte der gesamten Reihe – wahrscheinlich aufgrund der bestehenden Kopierrechte – den veritablen Anspruch vereiteln.

Die Auswahl als solche kann dennoch überzeugen, bietet sie einen repräsentativen Querschnitt von dem, was gehört wurde und andererseits besser hätte gehört werden sollen. In der Ausgabe zum Jahr 2000 sind demnach sowohl Chartserfolge etwa von der verstorbenen Aaliyah, den mittlerweile zerstrittenen All Saints oder OutKast, andererseits jedoch auch Stücke von den fantastischen Calexico, den ewig unterschätzten Grandaddy, der provokanten Wahlberlinerin Peaches oder dem Weilheimer Console zu finden, welcher sich im Millennium Jahr an einen Remix des Tocotronic Stückes Freiburg wagte. Jeder Song wird kurz besprochen und die jeweiligen Umstände liebevoll rekonstruiert, in welchen er entstand. Gerade bei den frühen Jahren ergibt sich so für die jüngeren Generationen ein aufschlussreiches Nachschlagewerk, welches pophistorische Zusammenhänge aufzuschlüsseln weiß, auch wenn der enorme Umfang eines solchen Ansatzes selbstverständlich viele Momente unbeachtet lässt.

Selbst wenn ein so grenzenlos subjektiv belegter Versuch, wie die Zusammenstellung und Präsentation der größten und wichtigsten Stücke der letzten 50 Jahre Musikgeschichte stets zu polarisieren weiß, jeder zu beanstandende Lücken ausmachen kann und man sich gern über die Notwendigkeit und den Gehalt einer chronologischen Sammlung von Popmusik – vielleicht auch gerade vor dem Hintergrund der stagnierenden Umsätze im Zeitungsverkauf im Allgemeinen – streiten mag, scheint der SZ Redaktion eine veritable Großtat zu gelingen, von der man das ein oder andere Exemplar früher oder später in seinem Schrank wieder finden wird.
foto: sz diskothek



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