Shaun Tan [Ein Neues Land]

Fünf Wörter braucht es um eine epochale Geschichte zu erzählen, welche als ein universelles Idealbild eines Miteinanders in einer globalisierten Welt gelten könnte. Der australische Illustrator Shaun Tan weiß, wie man solche Geschichten erzählt.

"now I realise that most of my stuff comes from the subconsciousness."
(shaun tan)

Am unliebsamsten sind mir meistens die Comics mit der Unterzeile "Ohne Worte!" Hier ist Pragmatismus gefordert, welcher mit den Bildern einhergeht. Meistens prangt dieses selbsterklärende Hinweisschildchen auf Panels in Lokalzeitungen, welche lediglich ein kurzes Lächeln erzeugen sollen. "Klar", denkt man sich, "diesen Witz habe ich verstanden"! Ohne Spruchbläschen und Gehirn geht es dann weiter zur nächsten Seite. Doch dass das Attribut "Ohne Worte!" für weit mehr stehen kann als für ein lapidares Bilderrätsel, beweist der Illustrator Shaun Tan, der mit seiner Graphic Novel "Ein Neues Land" (Original: "The Arrival"), eine surreale Flüchtlingsgeschichte nacherzählt, welche mit einem Minimum an Text auskommt und trotzdem alles zu sagen vermag.

Im Grunde genommen lassen sich die Wörter, die Tan für seine großformatige Graphic Novel benutzt, an einer Hand abzählen. Sie befinden sich direkt am Anfang, noch bevor man in die Geschichte hineingezogen wird. Zwei für seinen Namen und drei für den Titel. Macht insgesamt fünf Wörter, die eine Story von epischen Ausmaßen erzählen. Nicht ganz so pragmatisch verfährt er, wenn es um die zahlreichen, oft gemäldeartigen Illustrationen in dem 128-seitigen Hardcover geht. Insgesamt vier Jahre soll der in Melbourne lebende Illustrator an den einzelnen Skizzen, Figuren und Panels gesessen haben. In diesen vier Jahren hat sich Tan nicht nur Inspiration bei seinem Vater geholt, der ebenso als Emigrant nach Australien gekommen ist, sondern er hat auch ein Auge auf die großen Flüchtlingserzählungen "
The Immigrants" (von Wendy Lowenstein und Morag Loh) und "Tales from a Suitcase" (von Will Davies und Andrea Dal Bosco) geworfen, die nicht nur exemplarisch für Abschied und Neuanfang stehen, sondern auch Episoden aus dem Leben eines jeden Emigranten einfangen. Da wären die Fremdheitserfahrungen, die sich in Sprache, Kultur, Kleidung und Architektur der "neuen Welt" manifestieren. Und außerdem die wandelbaren kulturellen Identitäten, die sich durch den Umstand der Emigration aus den geprägten Strukturen lösen.

Ein Blick ins Familienalbum

Ähnlich symbolisch verfährt Tan, der mit "
Ein Neues Land" ein verwandtes Szenario einfängt. Der Protagonist, ein junger Vater mit europäischen Wurzeln, verlässt Haus und Hof, um ein besseres Leben für sich und seine Familie in einem fernen Land zu ermöglichen. Mit dem Versprechen, am anderen Ende des Ozeans nach einem festen Job und einem sicheren zuhause für seine Familie zu suchen, betritt er ein Schiff, das ihn in eine fremde Metropole führt, die in jeglicher Hinsicht als eigenartig einzustufen ist. Als Einwanderer registriert, betritt er den fremden Boden, der in naher Zukunft seine Heimat werden wird. Er sieht surreale Bauten, die sich wie amorphe Monumente in der ganzen Stadt wiederfinden. Er erblickt Luftschiffe, fliegende Ballon-Taxen, Dampfmaschinen und Zeitungsjungen, die das aktuelle Tagesgeschehen in Runenform verkaufen. Mit Unsicherheit versucht er sich in den Straßen der Stadt nach einer Bleibe zu erkundigen und stolpert über die Unverständlichkeit der fremden Sprache. Mit sicherer Hand erklärt er seinen Gesprächspartnern sein Anliegen und findet schnell eine Familie, die ihn aufnimmt und schließlich auch einen Job, der ihn zu eigenem Vermögen kommen lässt. In der Zwischenzeit hat er bereits einen Begleiter in Form eines ihm fremden Tieres gefunden, welches nicht mehr von seiner Seite zu weichen scheint. Doch eines lässt ihn weiterhin verzweifeln: seine Familie ist immer noch weit entfernt. Ihm fehlt Frau und Kind, die er so schnell wie möglich wiedersehen möchte.

Doch das Wiedersehen wird noch auf sich warten lassen müssen. Ein zentraler Topos in "E
in Neues Land" ist die Ankunft des Protagonisten im Hafen der fremden Stadt. Dicht gedrängt steht dieser mit vielen anderen auf dem Bug des Schiffes und späht in die Ferne. Die erste Kunde vom Festland bringen zahlreiche Vögel, die das Schiff überfliegen und sofort drängen sich die Reisenden an die Reling, um den Hafen als Erste/r einsehen zu können. In der Ferne erblicken sie zwei monumentale Statuen, die sich einander die Hände reichen - ein symbolhafter Gestus, der nicht nur zur Begrüßung der Neuankömmlinge dient, sondern vor allem ein moralisches Wertebild aufrechterhalten möchte. Viele der nachfolgenden Panels - das einfahrende Schiff im Hafen, die Wartehalle, die Registrierung - basieren auf Originalfotos aus der Sammlung des Ellis Island Immigration Museums, dass, im Hafen vor New York, im 18. und 19. Jahrhundert der Hauptanlaufpunkt für Flüchtlingsschiffe aus Europa und Afrika war.

Home Sweet Home

Tan ist ein Meister des allegorischen Erzählens. Wie ein universelles Sinnbild für die Fremdheitserfahrungen eines jeden Auswanderers wirkt "
Ein Neues Land" wie eine Postkarte oder ein Schnappschuss aus einer anderen Welt, mit der man am Anfang nichts anzufangen weiß. Auf dem Vorsatz prangen viele namenlose Portraits von Menschen, die das gleiche Schicksal mit dem Protagonisten zu teilen scheinen. Aufbruchsstimmung und Ungewissheit umfängt die Mienen der vielen Namenlosen. Ehe man sich versieht beginnt man den Portraits eine eigene Biografie zuzuordnen und aufgrund von Kleidung und Erscheinung Rückschlüsse auf die Personen zu ziehen. Doch weit gefehlt: durch das langsame Enthüllen der fremden Eigenarten wird der Leser mit dem Protagonisten auf eine Stufe gestellt. Das Selbst und das Andere scheinen zu verschmelzen und schlagen somit eine Brücke zu der eigenen Fremdheit, die nicht nur negativ konnotiert ist, sondern zum subjektiven Empfinden des Selbst dazu gehört.

Der Protagonist, der nach einem zuhause für seine Familie sucht, findet sich genauso wenig in der unbekannten Welt zurecht wie der Leser, dem die surrealen Straßenzüge der namenlosen Stadt ebenso vor den Kopf stoßen wie den Charakteren. Alles muss man zweimal anstarren, bevor man hinter dessen wahre Bedeutung gelangt. Jenes schafft Verständnis und Akzeptanz und lässt zuletzt die Fremdheit zu einem Miteinander werden. Man entdeckt Eigenheiten, die sich wie vertraute interkulturelle Muster von der einen in die andere Welt übertragen lassen. Und außerdem menschliche Wesenszüge, die auch ohne Worte sagen, dass man stets willkommen ist.

fotos: shauntan.net, carlsen


shaun tan
"ein neues land"
(the arrival)
carlsen 2008
shaun tan
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