Damon Lindelof, J. J. Abrams, Jeffrey Lieber [Lost]

Die Wahrheit ist nirgendwo da draußen.
Als popkulturell gebildeter Mensch sollte man einen Oceanic Airlines Flug stets dankend ablehnen, denn seit 1996 verhieß dies nie etwas gutes. Doch dieser eine spezielle Flug sticht in der Geschichte der Fluggesellschaft ganz besonders hervor.

"4, 8, 15, 16, 23, 42"
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Bereits als der Absturz des Oceanic Airlines Passagierflugzeug auf dem Flug 815 von Sydney nach Los Angeles am 22. September 2004 das erste Mal gezeigt wurde, war nichts mehr in Ordnung. Weder für die 48 Überlebenden des Fluges, noch für uns Zuschauer.

Noch bevor die unter Schock stehenden Überlebenden die letzten notdürftigen erste Hilfe Maßnahmen durchgeführt haben und sich das kleine Stück Strand erschließen können, auf welches sie aus heiterem Himmel mit dem Vorderteil der Maschine gestürzt sind, ereignen sich mysteriöse Geschehnisse die dazu beitragen, dass das allgemeine Konzept von Wirklichkeit unliebsam überstrapziert wird.

Die episodische, durch Rückblenden durchzogene Form der Serie erlaubt es immer mehr Teile in das seltsame Puzzle Lost einzufügen und genau hier beginnt das Verwirrspiel mit unseren eignen Erwartungen. Ganz wie die zahlreichen Seriencharaktere begeben wir uns ständig auf die Suche nach der Wahrheit und reflektieren dabei in den wenigsten Fällen, welche Probleme wir uns damit einhandelt.

In einem weit verbreiteten und dem Common sense entliehenen Ansatz, betrachten wir Wahrheit im Sinne der Korrespondenztheorie: wir vergleichen, einfach ausgedrückt, unsere Gedanken Vorstellungen, Annahmen oder Theorien mit der Wirklichkeit; sind Gedanken und Wirklichkeit deckungsgleich, sprechen wir davon, dass diese wahr sind. Stimmen sie nicht überein, sind sie eben nicht wahr. Um nicht in metaphysische Verlegenheit zu geraten, lassen wir das Problem, wie diese Übereinstimmung aussehen soll, etwa ob die "Form" der Wirklichkeit mit der "Form" unserer Gedanken korrespondieren soll, beiseite. Es ergibt sich jedoch noch eine weitere, nicht zu vernachlässigende Problematik: gibt es tatsächlich eine feststehende Welt der Wirklichkeit, die unabhängig von der Welt unserer Erfahrung existiert und mit der wir unsere Eindrücke vergleichen können? Ohne dies beantworten zu müssen können wir annehmen, dass, sollte eine solche Welt existieren, wir auch diese durch die selbe Brille betrachten würden, deren Gläser durch unsere individuellen und kulturellen Erfahrungen geschliffen wurden. Kurz: was wir als wahr annehmen hängt stets von unserer Perspektive ab und es scheint keine einzunehmende Position außerhalb unserer Überzeugungen zu geben, von der aus wir die Möglichkeit haben eine Übereinstimmung überprüfen zu können. Vielleicht sind wir gerade deshalb stets versucht alles uns nur mögliche zu unternehmen, um Widersprüche in die Kohärenz unserer Wahrheitskonzeption zu integrieren.

Gerade vor diesem Hintergrund scheint Lost das erkenntnistheoretische Dilemma exemplarisch zu beleuchten: Betrachten wir zunächst Jack Shepard, von dem wir als Zuschauer – gleichwohl wie von den anderen Charakteren - mit großer Wahrscheinlichkeit weitaus weniger wissen als wir annehmen. Er vertraut offensichtlich auf ein rationelles, naturwissenschaftliches Konzept von Wahrheit, was vielleicht kaum verwunderlich ist, wissen wir doch, dass er Mediziner ist. Immer wieder ist Jack darin bestrebt, alle auftauchenden Ereignisse und Ungereimtheiten mit naturwissenschaftlichen Methoden und logischen Schlüssen zu erklären und sieht sich dazu genötigt, seine Überzeugungen vor einem Zusammenbruch aufgrund unvereinbarer Widersprüche – wie dem leeren Sarg seines Vaters auf der Insel – zu schützen.; etwa mittels Verdrängung. John Lock hingegen, als eine Shepard entgegengesetzt stehende Hauptfigur der Serie, vertritt eine weitaus spirituellere Wahrheitskonzeption, doch auch mittels dieser gelingt es ihm nie ganz die bizarren Ereignisse kohärent erfassen zu können. Immer wieder finden wir ihn zerrissen und verzweifelt, wenn er über eine lange Zeit hinweg fest daran glaubte, "die Insel" endlich verstanden zu haben und dann doch mit Widersprüchen konfrontiert wird.

Dennoch sind diese, hier exemplarisch aufgegriffen Figuren nicht auf jeweils eine Perspektive fixiert. Lost entwickelt seine Charaktere in Schüben zu runden, sehr komplexen Figuren, die nicht nur immer wieder in der Lage sind ihre Leidensgenossen, sondern auch uns als Zuschauer zu überraschen. Als ein gutes Beispiel lassen sich hier neben Jack und Lock sicherlich Charlie Pace, Locks Protegé, der zwischen der Rolle des hedonistischen Rockstars und der aufopferungsvollen Familienfigur hin und her wechselt, oder der charismatische Weltenbummler Desmond David Hume und seiner an Alan Moores Figur des Dr. Manhattan erinnernden simultanen Wahrnehmung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufführen. (Eine ausführliche Betrachtung der philosphischen Namensverweise leistete die Spex bereits in der Ausgabe 314.)

Die persönliche und uns oft gar nicht so bewusste Haltung gegenüber dessen was wir als Wahrheit akzeptieren, spielt bei der Partizipation eine nicht zu unterschätzende Rolle. Je nach Sichtweise – und in deren Verankerung spielen vermutlich unzählige gesellschaftliche, psychologische, kulturelle und andere Aspekte eine Rolle – gehen die einzelnen Charaktere unterschiedlich mit den undurchsichtigen Ereignissen um. Und immer wieder spielt Lost auch mit der Beziehung zwischen dem Zuschauer und eben diesen Charakteren und jenen Ereignissen auf der Insel im Nirgendwo des Pazifik; nur wenn wir uns unsere eigenen Konzeptionen deutlich machen, können wir uns davor schützen nicht selbst in die Falle unserer eigenen Erwartungen zu tappen. Denn durch die Struktur der Serie wähnen wir uns zusehens in Gewissheit bezüglich verschiedenster Vorkommnisse, investierten immer wieder Gedanken und Schlüsse die für uns schlichtweg wahr sind, jedoch nur so lange, bis wir (wiedereinmal) einsehen müssen, dass sie nur unter einem bestimmten Blickwinkel als wahr aufzufassen sind. Ändert sich die Perspektive, so ändert sich die Zuschreibung. Auf diese Weise scheinen wir selbst von der Insel gefangen zu sein.

Durch diese Komplexität entfaltet sich eine polyphone Erzählstruktur in der keine Position die Oberhand gewinnt, sondern als sich widersprechende Perspektiven gleichberechtigt existieren. Die mysteriöse Zahlenreihe ist ein gutes Beispiel hierfür. Ich plädiere dafür zu sagen, dass eben dieser Widerstreit einen großen Teil der Wirkung der Serie ausmacht. Da keine auktoriale Position zu beziehen ist, befindet man sich beim Betrachten im gleichen Dilemma wie in der eingangs erwähnten Korrespondenztheorie; es gibt auch hier keine einzunehmende Position außerhalb unserer auf die Serie bezogenen Überzeugungen, von welcher aus wir die Möglichkeit hätten, etwaige Übereinstimmungen überprüfen zu können. Erst mit einer solchen Perspektive ließe sich das Bestreben von Jack oder Lock (oder uns) als ironisches Verkennen der Wahrheit entlarven. Denn schließlich entzieht die Polyphonie dem Konzept der Ironie schlichtweg den Boden. Und genau hier ergibt sich auch die Fehlerhaftigkeit der Puzzle-Analogie: bei einem Puzzle weiß man immer, dass am Ende alle Teile in einem zwar unbekannten, aber dennoch bestimmten Bild münden werden. Im Konzept der Polyphonie hingegen ist es bereits fraglich, ob sich die einzelnen Teile überhaupt miteinander verbinden lassen.

Doch hierin könnte letztlich das Dilemma der Serie selbst liegen, dass diese nämlich nur im Status nascendi, im Moment des Entstehens, der Gegenwärtigkeit funktionieren kann. Mit einer am Ende alles erklärenden, geschlossenen Erzählung würde dies polyphone Struktur aufgelöst – in beiderlei Sinne des Wortes - und auf eine simplifizierende Eindeutigkeit reduziert werden. Auf der anderen Seite lesen sich zahllose Beiträge in Blogs dahingehend, dass nichts anderes als eine eindeutige Auflösung am Ende der sechsten Staffel in Frage kommen darf.
foto: buena vista


damon lindelof, j. j. abrams, jeffrey lieber
"lost"
2004-2010