Marching Band [Sparke Large]

Es wird Sommer! Und da sind Hymnen auf die Liebe und das Leben nach all der Schwermut des viel zu langen Winters wieder erlaubt und nur allzu erwünscht. The Marching Band versorgen uns zum Frühlingsanfang mit tief empfundenem und pfiffig gemachtem Songmaterial ihres Debutalbums "Spark Large".


"this year we capture the feel; our days get longer in the summer."
(for your love)




Diese Schweden scheinen das Frühlingsgefühl erfunden zu haben. Pünktlich zum schönen Wetter beschert uns das schwedische Pop-Duo Marching Band ein Album dass winterliche Melancholie und sommerliche Leichtfüßigkeit in zwölf Songs verbindet und subtil aber bestimmt eine hellere, fröhlichere und wärmere Zeit voraussagt. Auf dem Weg zu einer der ersten Sommerplatten des Jahres liegen jede Menge Shins-Unbefangenheit-Riffs; Melodieführung und die ohrgefällige Regelmäßigkeit blubbernder Offbeats erinnern stark an "Chutes To Narrow", jedoch behalten sich Marching Band auf ihrem Debütalbum "Sparke Large" einige wertvolle und charakterisierende Eigenheiten vor, die es in Zukunft weiter auszubauen gilt.

Neben dem über weite Strecken gedoppelten und dezentralen Gesang, der den Hörer angenehm entspannt durch das Album trägt, fallen die Klavierarrangements und der Gebrauch von vielfältigem Schlagwerk als besonders positiv auf; Da reihen sich Marimbaphon, Steel Drum und jede Menge Geklappere und Gerüttle ein, bevor das Drum Kit wieder streckenweise mit pulsierendem Beat und groovendem Timing übernimmt.

Am schönsten sind die Beiden, wenn sie die das große Gerät weglassen und sich den schlichten und eingängigen Popsong zu eigen machen. Die schrebbelige Clapyourhandssayyeah- Manier, die sich hier und da - sicher auch dank Produzent Adam Lasus - einschleicht steht den Schweden nicht besonders und ist auch gar nicht nötig, um ein paar wirklich innovative und kurzweilige Songs zu schreiben, in denen Text und Musik sich in tollster Indieharmonie die Hand zu geben scheinen und die Produktion absolut authentisch und ehrlich auf die Künstler und ihre Fähigkeiten passt. Man merkt, hier waren wirkliche Talente am Werk, die Klangvorstellungen in aktives Material verwandeln und sich dabei in Experimenten verlieren können. Die klaren Strukturen und zielorientierten Rhythmen lassen den Stimmen genau die emotionale Wirkung zukommen, welche die Songs brauchen und ertragen können; Spannungsbögen sentimentaler Momente werden nie überdehnt, es wird mit Dynamik und Instrumentierung gespielt anstatt mit technischen Übersteuerungen.

Und die Marching Band macht mit all ihren launischen Geschichten über alltägliche Geschicke und kleine Dramen nach all dem winterlichen schwermütigen Songwritergejammer auch einfach unendlich Spaß: aufdrehen und ab in die Sonne!
foto:


marching band
"sparke large"
haldern pop recordings, 2009 cd
marching band

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Mathias Ahrberg [Korrekte Klamotten]

Alles Bio – Alles Fair!
Die beiden Schlagworte vereinen eine immer größer werdende Gruppe von Labels und Designern im Modebereich, die sich mit Nachhaltigkeit auseinandersetzen. Und seit einiger Zeit bloggen sie auch vernetzt.



"immer auf die etiketten gucken! nicht auf greenwashing reinfallen!"
(mathias ahrberg)


Vor gut drei Jahren begann das kleine Hamburger Mode Label fairliebt mit einer handvoll schicken T-Shirts seine Arbeit. Wiebke Hoevelmeyer und Mathias Ahrberg wehrten sich mit ihrer Idee gegen das dürftige Angebot von selten gut geschnittenen Artikeln im Bereich der fairgehandelten und ökologisch produzierten Bekleidung. Korrekte Klamotten eben. Heute hat sich die Situation gewandelt. "Der 'Markt' ist erstaunlich schnell gewachsen", sagt Mathias Ahrberg. "Mittlerweile gibt es viele Anbieter mit einem sehr großen Angebot. Neben den großen Ketten mit ihren Feigenblatt-Angeboten steigen mittlerweile immer mehr Designer auf nachhaltig produzierte Stoffe um. Ist eben einfach besser." Ob es dieser Gedanke ist, der die großen Textilwarenhäuser in Deutschland und darüber hinaus zu der Entscheidung bewog "BioCotton" oder "Organic Cotton" als Kollektionen in ihre Programme aufzunehmen, oder ob es einfach das alte Diktat der Nachfrage zwischen hippen LAOHAS und minimalistischen LOVOS war, lässt sich nur mühsam nachvollziehen. Ahrberg betrachtet die Entwicklung zwar wohlwollend aber auch mit einem kritischen zweiten Blick: "C&A zum Beispiel zählt zu den fünf größten Einkäufern von Biobaumwolle. Das muss man schon honorieren, das ist ordentlich. Allerdings kann man Kleiderproduktion (ganz!) grob in drei Prozesse einteilen: die Pflanzen auf dem Feld, die Stoffproduktion und schließlich die Fertigung des Kleidungsstücks. Wenn die Pflanze ohne Chemie wuchs, anschließend aber durch ein Chemiebad wanderte und zuletzt in einem Sweatshop verarbeitet wurde, steht zwar Biobaumwolle drauf, ist aber nicht wirklich drin."

Letztlich geht es nicht nur Ahrberg um mehr als eine hypegeschuldete Haltung die mal eben auftaucht, aber sicherlich bald wieder nachlassen wird. Die erste vollständige Frühling/Sommer Kollektion von Kleidern, Shirts und Accessoires aus dem Hause fairliebt trägt den Titel "Tropen, jetzt!" und dazu ließt man die Zeile "Tropen, jetzt! lieber im Kleiderschrank als vor der Haustür". Die komplexen Hintergründe des Alltagskonsums sind den Betreibern hierbei sehr wichtig, auch wenn sich das Kommunizieren dieser oft als sehr schwerfällig erweist. "Man kann ja nicht mit der Moralkeule herumlaufen", erklärt Ahrberg. "Und es gibt ja auch sehr viele Probleme, die durch strategischen Konsum nicht gelöst werden können. An diesen Stellen muss die Politik eingreifen. Aber wir finden es großartig, wenn Produzenten sich über die Ursachen ihres Handelns im klaren sind und dies dem Konsumenten vermitteln."

Korrekte Klamotten dient nicht nur als Schlagwort für die eben beschriebenen Bekleidungsartikel im Gesamtprozess der Herstellung, sondern auch als Netzwerk kleiner unabhängiger Modelabel und DIY Ideenschmieden. Der von Ahrberg iniziierte Blog richtet seinen Blick auf unter zertifizierten Bedingungen aus nachhaltigen Rohstoffen produzierte Waren. "Die Vernetzung klappt sehr gut. Auf Messen wie der BioFach oder der Ökorausch stolpert man ohnehin immer wieder übereinander. Also wir haben in den drei Jahren viele nette Menschen kennen gelernt, wenn die dann auch noch ein Label haben, umso besser." Dass man unter ökonomischen Gesichtspunkten dabei eigentlich im Wettbewerb steht wird jedoch nicht zu einem Problem: "Unsere Angebote unterscheiden sich ja schon vom Stil. Die faire Produktion ist nur die ganz große Klammer."

Neben Seiten wie Utopia, Nachhaltig Beobachtet oder zahlreichen individuellen Blogs, richtet sich der Blick von Korrekte Klamotten auf die Möglichkeiten ökologischen und fairen Handels. Ein immanentes Problem von kulturellen Erscheinungen dieser Art ist stets die Frage, ob das jeweilige Anliegen tatsächlich Menschen von der eigenen Idee überzeugen kann, oder ob es beim preaching to the converted bleibt. Ahrberg gewinnt der Problematik eine positive Perspektive ab. "Durch die vielen Bio-Lebensmittel sind die meisten schon sensibilisiert und haben einfach nur noch nie über ihre Kleidung nachgedacht. Und das 'Neue' an den ganzen jungen Labels ist eben, dass sie sich über ihren Stil definieren und nicht nur die klassischen Ökos ansprechen wollen. Es ist nach wie vor recht schwierig in den konventionellen Läden verkauft zu werden, einfach weil es so unglaublich viele Labels gibt. Aber das wird."

Ähnlich optimistisch ließt sich auch ein Beitrag zur Biofach Messe im KK Blog: "Ich träum ja von einem korrekte.klamotten-Gemeinschaftsstand auf der Biofach 2010. Mit allen, die hier aktiv mitbloggen." Dann träumen wir mal mit.
foto: susanna goonawardana


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Kitty Solaris [My Home Is My Disco]

Erste Assoziation: Außen auf der Platte Boxhandschuhe, innen Musik wie flauschige Kissen und Marzipanschokolade im Mund. Da kann man sich verlieben, aber nur, wenn man über die Boxhandschuhe hinwegsieht.



"she's like a honeybee, she's always teasing me."
(positive/negative)


Der Ort eines jeden Künstlers, der Ort der good vibrations, der Ort, an dem in jeder Ecke eine Idee lauert ist - nein, kein Café, und auch nicht das Wohnzimmer oder ein Wald bei Nacht, sondern die Küche. Frau Solaris tut es nur da. Komponieren. Mitten im Prenzlauer Berg, mit Berlin vor dem Fenster, sitzt Frau Solaris nachts neben dem Herd und schreibt. Romantik kann dieser Vorstellung niemand abstreiten.

Diese Musik ist groß wie Berlin, bloß versteckt hinter schüchternen Xylophonklängen, sanften Bässen und einer zerbrechlichen Stimme. Manchmal, da traut sich Kitty plötzlich etwas, da vernimmt der Hörer auf einmal ein Schlagzeug oder sogar zwei mutig scheppernde Gitarren miteinander und auffallende Lautstärkekontraste. Besonders Turn On The Light On Me legt nach wenigen Minuten richtig los, mit Liebe zum Detail, aber die Zerbrechlichkeit der Küche bleibt zwischen den Tönen hängen, die Unberührbarkeit, die Gänsehaut mit den nackten Füßen auf den kalten Fliesen. Die klappernden Weingläser mit Freunden. Ein schönes Gefühl.

Man nennt es Lo-fi-Pop. Namen wie Cat Power und PJ Harvey bleiben im Unbewusstsein hängen, und wenn man später liest, dass die Künstlerin auch ein Faible für AC/DC und die White Stripes hat, meint man sogar, auch irgendetwas von selbigen irgendwo da zu vernehmen. Kittys Musik ist eben vielseitig, und sie hört sich für jeden anders an. Sie ist frisch und anders, befreiend, abwechslungsreich und erleichternd, wie ein kühles Bad im Sommer.

Dennoch ist "My Home Is My Disco" eine der wenigen Platten, bei denen der erste Eindruck trügt. Das Artwork glänzt nicht von der besten Seite, auch das Cover nicht, es bleibt zu blass und nichtssagend. Beim ersten Aufschlagen ein Stirnrunzeln: Kitty Solaris schaut mich auf ihrer eigenen CD herausfordernd mit roten Boxhandschuhen an den Händen an. Ob Kirsten Hahn - Mrs. Kitty sozusagen - einfach nur starke Kontraste mag oder sie tatsächlich so ist, wird mir auch beim Anschauen ihrer Videos nicht klar - aber so ist es eben, ihre Musik hört sich für jeden anders an.

Kitty Solaris werden auf ihrer Homepage die "ganz großen Bühnen" vorhergesagt. Dieses Zitat stammt von 2005. Die Künstlerin scheint es sich zu Herzen genommen haben - denn was folgte, war harte Arbeit. Nachdem ihr erstes Album "Different People" schon 2003 erschienen war, wurden daraufhin zwei EPs geboren. Die zweite Platte "Future Air Hostess" wurde 2007 veröffentlicht, "My Home Is My Disco" ist wiederum ihr drittes Album und erscheint am 24. April diesen Jahres beim selbstgegründeten Label Solaris Empire/Broken Silence. Für letzteres hat sie sogar Strokes-Produzent Gordon Raphael sowie Liars-Produzent Holger Müller an Land ziehen können. Damit hat sie innerhalb weniger Jahre eine stolze Diskographie aufgebaut, die sich sehen lassen kann.

Die "ganz großen Bühnen" sind jedoch eine Sache der Interpretation - sicher ist, dass Kitty Solaris schon sehr viele Berliner Bühnen von oben gesehen hat, die Bühnen ihrer Heimatstadt, und mit ihrer neuen Platte wird sie auch Magdeburger, Ulmer, Baseler, Badener und Freiburger Bühnen von der ganz besonderen Perspektive betrachten können. Bestärkt wird sie dabei von Steffen Schlosser an ihrer Seite. Für diese Berlinerin bleibt aber immer Platz nach oben, und dass sie dem gewachsen ist, ist überhaupt keine Frage. Hiermit seien ihr also auch von der Lichter-Seite die großen Bühnen vorhergesagt.

Kittys Home ist ihre Küche, also ist die ihre Disco. Der Hörer kommt nicht umhin, den Rest der laufenden Platte den minimalistischen, englischsprachigen Texten zu lauschen, die eine Musik ganz für sich sind, und sich nach jedem Satz zu fragen: Würde ich das in meiner Küche denken?
Aber er wird schnell merken, dass diese Texte Fragmente des Alltags sind, diese Textzeilen, die einem plötzlich auf einer Party oder an der Ampel oder im Supermarkt im Kopf blümen. Frau Solaris hat das Talent, sie festzuhalten, und deshalb hat jeder Song sein ganz eigenes Gefühl, jeder Song seine eigene Jahreszeit, seinen eigenen Ort, an den er gehört.

Wie gut, dass die Boxhandschuhe verschwinden, sobald sich die CD-Klappe der Anlage darüber schließt.
foto: bergen


kitty solaris
"my home is my disco"
solaris empire, 2009 cd
kitty solaris

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Beoga [The Incident]

If you are lucky enough to be Irish, then you are lucky enough.
Das irische Qintett Beloga scheint hier keine Ausnahme zu bilden und vermischt traditionelle Folklore mit bunten Stilelementen.


"the most exciting traditional band to emerge from Ireland this century."
(wall street journal)


Es gibt wundersame und eigenartige Zufälle, die sich im Leben Einzelner ereignen und die Menschen unabhängig von Altersunterschied, Distanz und Vorgeschichte zusammenbringen. Horizonte werden erweitert, Vorurteile aus dem Weg geräumt, diskutiert, erprobt, verworfen. Und plötzlich gibt es eine neue Idee, eine Gemeinsamkeit, in der sich jeder neu erfinden und verwirklichen kann. Und wenn diese Idee Musik ist, dann birgt das kleine Wörtchen Zufallsprodukt eine wunderschöne zweite Konnotation, ein Hintertürchen zur Chance etwas zu erschaffen, was Tanzbeine, Ohren und Herzen erfreut. Und die Welt ist um eine Band und Duzende von neuen Tönen reicher.

"The Incident" ist das neue und dritte Studioalbum der jungen irischen Band Beoga, die in den letzten Jahren weit über die Landes- und Genregrenzen hinaus für Furore sorgte und Publikum wie Presse begeistert hinterließ. Mit zwei Buttonaccordeons, Piano, Bodhrán, Gitarre, Fiddle und Gesang warten die fünf Iren eigentlich mit einem relativ typischen Instrumentarium für den Irish Folk auf, behalten sich jedoch vor, die Grenzen der uralten Traditionen aufzusprengen und sich mit jugendlichem Eifer auf ins Neuland zu machen, in dem sich Jigs und Reels mühelos mit Anleihen aus Jazz, Soul oder Tango kombinieren lassen, und wo alteingesessenes zur Spielwiese für die innovativen Geistesblitze und unkonventionellen Stileigenheiten fünf höchst individueller Musiker wird. Hier treffen verschiedenste Begabungen und Talente im Musizieren, wie in der Komposition und den Arrangements der Tunes und Songs zusammen und lancieren gemeinsam ein vollkommen ausgewogenes, rundes Bild einer homogenen Gruppe, in der keiner dem anderen nachsteht. Jedem aufmerksamen Musikhörer wird es aufgefallen sein, dass oftmals ein oder zwei Köpfe das musikalische Geschick einer Formation bestimmen und ihr Charakter, Ausstrahlung verleihen. Beoga vereinen scheinbar mühelos fünf höchst eigensinnige und kreative Köpfe, die grade durch ihre unterschiedlichen und nebenbei auch herrlich charmanten Persönlichkeiten gewinnen und ihre Differenzen in einen eigenen Duktus, einen höchst speziellen Ton verwandeln. Tragflächen für dieses Phänomen existieren vielerlei, sei es die Besetzung zweier unglaublich spielfertigen Akkordeons, die Bühnenpräsenz und rauchigen Stimmfarbe der Sängerin Niamh Dunne, der progressive Topend - Stil des Trommlers Eamon Murray oder der groovende, beinahe kongenialen agierende Pianist Liam Bradley, der scheinbar im Hintergrund für die so typischen und brillant getimten Verlagerungen von Taktschwerpunkten sorgt. Ihr Repertoire bezieht das Quintett aus den Eigenkompositionen der Akkordeonisten Sean Og Graham (der auch einen soliden Gitarristen abgibt) und Damien McKee, sowie aus bereits existierenden, traditionellen Schätzchen, die in der Bearbeitung der Band durch ständige De- und Konstruktion neue Reize gewinnen. Überhaupt vermitteln die Tunes und Songs ein erstaunlich feines musikalisches Feeling für Spannungsbögen und Stimmigkeit. So zügellos und fröhlich Beoga in erstaunlicher Präzision und kaum verfolgbaren Tempi in Sets wie Antics, The Incident rattern und fetzen, so wehmütig und tief empfunden sind Songs wie Mary Danced With Soldies oder das abschließende The Best Is Yet To Come.

Kleines und hitverdächtiges Extra ist die Kollaboration mit dem lokalen Indie- Musiker Joe Echo für den Song On The Way, ein Titel, der wiederum ganz andere Impulse der Band offenbart und sich dennoch problemlos in das Gesamtbild des Albums einfügt. Bei Beoga passt einfach alles zusammen und ist doch voll an Reibungen und Spannung, hier ist alles echt und unverfälscht, die Tunes, die Spielfreude, die Musiker.

Und die, die kann man nur im simpelsten und schönsten Sinne das nennen, was sie sich selber als Prädikat und Namen auferlegt haben, das gälische Wort für: Lebendig! Beoga!
foto: beoga


beoga
"the incident"
compass records, 2009 cd
beoga

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Killed By 9V Batteries [Escape Plans Make It Hard To Wait For Success]

Vom Studio zurück in den Proberaum – Killed By 9V Batteries gehen den Weg zurück und lärmen bedingungslos vor sich hin. Dabei klingen sie nicht so, als ob sie vor der Stereoanlage Zuhörer vermuten würden, obwohl sie es verdient hätten.



Das Jahr 2008 war ein trauriges für Menschen, deren Verbundenheit mit Indiemusik aus dem deutschsprachigen Raum sich in der Verehrung ihrer Entstehungsorte manifestiert. Zunächst schloss im Juli 2008 das Hamburger Soundgarden-Studio, wo Bands wie Blumfeld oder Tocotronic ihre ersten Platten aufgenommen hatten. Nur wenige Wochen später verkündete Mario Thaler, dass sich das von ihm betriebene Uphon-Studio – Entstehungsort des Notwistschen Meisterwerks Neon Golden – in der heutigen Zeit nicht mehr rentiere und deshalb das Zeitliche segnen werde. Das Epitaph hierzu wurde bezeichnenderweise von Polarkreis 18 eingespielt, die mit dem Ergebnis der letzten Uphon-Aufnahmen im Herbst die deutschen Charts stürmten. Die Ära der Tonstudios ist für Bands und Künstler mit begrenzten finanziellen Möglichkeiten offensichtlich vorbei, da das Homerecording dank der Entwicklungen auf dem Computermarkt in den letzten Jahren zu einer günstigen Alternative geworden ist.

Diese Digitalisierung der eigenen vier Wände machen sich auch die Österreicher von Killed By 9V Batteries zunutze. Ihr selbstbetiteltes Debütalbum nahmen sie noch in einem Tonstudio in Berlin auf, für den Nachfolger begaben sie sich zurück in ihren Heimatort, ein Nest namens Weiz in der steiermärkischen Provinz. Das Trio nahm sich einen zweiten Gitarristen hinzu und spielte "Escape Plans Make It Hard To Wait For Success" im eigenen Proberaum ein. Der Klangqualität tat dies keinen Abbruch, auch wenn ein dreckiger Sound der Musik ebenso gut zu Gesicht stünde wie die glatt produzierte Oberfläche. Denn Killed By 9V Batteries hauen von Beginn an ordentlich auf die Kacke: Der Opener I Was Caught By Some Popular Lines wird von einem Gitarren-Feedback förmlich herbeigezerrt und entwickelt sich nach dem Einzählen ohne große Umstände zu einem druckvoll lärmenden Song, der nach zwei Minuten plötzlich ins Nichts zerfällt und als im Hintergrund rauschendes Präludium den nächsten Song ankündigt. Force Him To Rule His Own World ist einer von zwei Songs, die aus dem typisch noisigen Soundgewand der Batteries herausstechen. Deren sanfter Folkpop klingt fast wie bei den Labelkollegen von A Life, A Song, A Cigarette und die brüchige Stimme von Sänger Wolfgang Möstl erinnert plötzlich an Conor Oberst.

Doch sobald die Mundharmonika verstummt ist, drehen Killed By 9V Batteries die Verstärker wieder auf, denn am liebsten produzieren sie offensichtlich Lärm. Ihr Noise-Rock klingt dabei mehr nach 1989 als nach 2009 und könnte vom Zeitgeist kaum weiter entfernt sein. Als Referenzen ließen sich neben My Bloody Valentine, Fugazi und Chokebore sicher noch eine ganze Reihe anderer Bands nennen, welche die Hochzeit ihres Schaffens vor 15 bis 20 Jahren hatten. So verkündet auch der Promotext, dass diese Musik nicht als „Lifestyle-Gadget für Peergroups und Myspace-Freundeslisten“ diene, stattdessen soll offensichtlich auf Authentizität gepocht werden. Diese zugegebenermaßen banale Wahrhaftigkeit kann die Band tatsächlich für sich in Anspruch nehmen, denn dieses Album klingt genau so, wie es vermutlich intendiert war: Im Proberaum wird ein krachiger Song an den anderen gereiht und das Aufnahmeband läuft durch, während sich ein Teil der Stücke zum Ende hin in belanglosem Geklimper verliert. Dies ist zugleich die größte Schwäche des Albums: Das festgehaltene Proberaum-Gefühl lässt die Spannung zwischen den Stücken immer wieder rapide absinken, die Zwischenspiele wirken fast ein wenig wie Fremdkörper zwischen den energiegeladenen Songs und das Gesamtwerk verliert an Kompaktheit. Dabei liefern die Österreicher praktisch ausnahmslos großartige Stücke ab. Sie beherrschen nicht nur ihre Instrumente, sondern haben auch die notwendige Portion Wut im Bauch, mit der dem Hörer vor allem verzerrte Gitarren und verschwurbelte Texte entgegengeschleudert werden. Zum besseren Textverständnis müsste man wohl in den Kopf des Sängers hineinschauen können, doch die vielleicht wichtigste Zeile des Albums versteht man auch ohne viel Interpretationskraft.

Playing guitar doesn’t mean rebellion anymore
(Whatever People Say I Am, I Am)

Killed By 9V Batteries degradieren ihre Musik zum reinen Selbstzweck, die adoleszente Wut braucht kein Objekt, an dem es sich ausrichtet. Sie ist einfach da, wird aus den Instrumenten herausgeprügelt und ins Mikrofon hineingeschrieen. Der Gesang überschlägt sich dabei immer wieder, als ob der Stimmbruch nicht schon ein paar Jahre in der Vergangenheit läge. Killed By 9V Batteries sind eine hervorragende Band, deren Musik so typisch jugendlich-emotional wirkt wie sie gleichzeitig keinen Adressaten zu haben scheint. Sie brauchen kein Studio, um einen fetten Sound zu produzieren, sondern retten das Gefühl von Spontaneität und Natürlichkeit ihrer Songs auf den Tonträger hinüber, ohne dass die Arrangements einen besonders ausgefeilten oder bemühten Eindruck machen. Bei vielen Bands ist diese Schludrigkeit – der Mangel an ausgearbeiteten und stimmigen Songs – eine Schwäche, bei Killed By 9V Batteries wird sie zur Stärke.
foto: florian wieser


killed by 9v batteries
"escape plans make it hard to wait for success"
siluh records, 2009 cd / lp
killed by 9v batteries

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Trouble Books [The United Colors Of Trouble Books]

Der französische Schriftsteller Jean de la Bruyère lehnt zwar die Beurteilung eines Menschen und dessen Charakters mittels des ersten Eindrucks ab, schlägt diese Methode jedoch als adäquat für Kunstwerke vor. Einen solch unreflektierten, rohen und direkten Blick möchte ich auf das vorliegende Album wagen und eine Besprechung zum simultanen Kommentar werden lassen.


"i let those men send you up into space, the only place colder than the motherland."
(strelka)


Das knistern einer Wunderkerze und das knirschen von frischem Schnee unter den Füßen eröffnen das Album, bevor verschiedene Holzbläser einsetzen und von einem so rhythmischen wie spärlichem Schlagzeug begleitet werden. Eine ruhige, entspannte, warme Atmosphäre entwickelt sich, während sich langsam Glockenspiel und elektronische Störgeräusche einfinden. Dann kommt der Moment, der eine gute Eröffnung manchmal zu Nichte macht: Das Einsätzen der Stimme. In diesem Fall sind es sogar zwei, ein Herr - Keith Freund - und eine im Hintergrund akzentuierende Dame - Linda Lejowski - die ein wenig an Architectures of Helsinki minus das verrückt euphorische Moment erinnern und ganz hervorragend die Stimmung aufgreifen.

Alles ergießt sich in einen akustischen Fluss von mäanderndem Rauschen ohne dass ich bemerke, mich längst im zweiten Stück zu befinden. Als von „smoke alarms and cheap electronics“ die Rede ist – und man diese vielleicht sogar im Hintergrund hört – unternimmt eine akustische Gitarre den don-quijote'schen Versuch das gewaltige Wabern zu strukturieren, versiegt jedoch wieder, bis das Klirren von nach Glas klingender Stabspiele ertönt und letztlich das ungreifbare Wabern versiegt.

Night Of The Pelican Street Sweaper ist schließlich auch das erste Stück, welches sich einer erkennbaren Songstruktur zu bedienen scheint, sich aber gleichzeitig wundersam an das bisherige Gesamtbild anschmiegt. Die beiden Stimmen begleiten mich weiter durch ein seltsam verrücktes (in beiderlei Sinne) akustisches, labyrinthartiges Arrangement: trotz der verschiedensten Abzweigungen und vermeintlichen Umwege befinde ich mich ganz deutlich noch immer auf dem selben Boden. Das Wabern, das Pluckern, das Rauschen, nichts dieser beruhigenden und herrlich unaufgeregten Klänge verschwindet jemals ganz. Auch wenn jeder neue Song aus der Ruhe heraus entsteht, weiß ich mich doch sofort irgendwie zu Hause. Irgendwo in diesem mit kindlichen Strichen und Wasserfarben gemalten Haus auf dem Cover.

Shaky Science, das vierte Stück macht hier keine Ausnahme, auch wenn sich jetzt herzerweichende Bläser in das Ensemble einreihen und die wohlige Stimmung nur noch mehr unterstreichen. Wie phantasievolle Intermezzi unterbrechen verschiedene Instrumente, Gesangslinien, Pausen oder Störgeräusche – wie jetzt gerade ein bedrohliches, wie ein Orkan am Horizont aufkommendes Brausen, das im letzten Moment doch ohne etwas zu verwüsten an mir vorüber zieht – eben dieses Grundwabern, dass mich vom ersten Moment an begleitet hat.

So assoziativ wie die Musik und meine unbeholfenen Versuche diese simultan in Schrift zu übersetzen, sind auch die Geschichten die Trouble Books erzählen: „We are like submarines underneath the ice and even if we had the teeth of narwhales we'd be fucked“, heißt es in On And On Submerged Ark, und kurz darauf ertönen völlig harmonisch Laute, die an 60er Jahre B-Movie Laserpistolen erinnern, ohne irgendwie zu stören. Ein bewundernswertes Gespür für das Unerwartete. Dieses ganze Zusammenspiel von scheinbar Unvereinbarem tritt immer mehr als prominentestes Merkmal hervor. Ähnlich der Moldy Peaches Duette tritt auch hier der Gesang seltsam versetzt, liebevoll unausgereift und stets knapp verfehlt nebeneinander; immer singen Freund und Lejowski zwar gemeinsam, aber nie zusammen.

For All Our Dead Freinds verstört – obwohl so unerwartet im Konzept erscheint es gar nicht – über Minuten hinweg mit einer stark verzerrten, basslastigen Rückkopplung. Vielleicht sollte man das metaphorisch betrachten. Mit beliebig angeschlagenen, scheppernden Becken wird die Musik scheinbar – um im Bilde zu bleiben – wiederbelebt: „If we push back the sad any longer, the drummer will be too drunk to play“. Zu einer minimalistischen Basslinie und der Wärme einer Slide Guitar gesellt sich die quirlige Stimme einer singenden Säge sowie eine melancholische Streicherharmonie. Das passt so wundervoll zusammen, dass das abrupte Ende des Stückes beinahe traurig stimmt.

Mit Schritten auf einem Kiesweg und den pulsierend angeschlagenen und elektronisch manipulierten Tönen eines Glockenspiels eröffnet Abandoned Greenhouse und empfängt mich dann mit den weit geöffneten Armen eindrucksvoll optimistischer Bläser, die sich als wesentlich trauriger Erweisen als sie anfangs schienen. Es ist nur ein kurzes Gastspiel und die immer hektischer werdenden Schritte erzeugen ein Bild von Ungewissheit und Unbehagen.

Ähnlich ungewiss einlässt mich "The Unided Colors Of Trouble Books" kurz darauf, auch wenn die letzten Zeilen merkwürdig hoffnungsvoll klingen: „I can't explain why, but it feels like heaven to me. I can't explain why, but I wake up happy.“ Vielleicht ist es genau das, was über das unkonkrete Wabern und die Vielzahl der eingesetzten Elemente transportiert wurde und am Ende zurückbleibt: das Unerklärliche in seiner dramaturgischen Dichte. Aber eben nicht im verstörenden, beängstigenden Sinne, sondern ganz im Gegenteil: „I can't explain why, but I wake up happy.“ Schön gesagt.
foto: bergen


trouble books
"the united colors of trouble books"
own records, 2009 cd
trouble books

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Selig [Und Endlich Unendlich]

Für einen kurzen Augenblick waren sie Mitte der 1990er Jahre der Nabel des deutschsprachigen Alternativrocks. Nun melden sich Selig nach zwölf Jahren Abstinenz unerwartet mit einem Comeback-Album zurück.




Erinnern Sie sich noch an die Anfänge des deutschsprachigen Alternativrocks? - Hier eine kleine Geschichtsstunde: Wir schreiben das Jahr 1994. Nirvana mischen die Rockwelt ordentlich auf und das erste Mal reagieren internationale Modelabel punktgenau auf den Zeitgeist, um mit bunt karierten Baumwollhemden und zerschlissenen Jeanshosen den musikalischen Hype optisch zu untermauern. Der Seattle-Sound hält Einzug in deutsche Eiche-Rustikal-Wohnzimmer und kündigt den bald darauf folgenden Boom des Indie-Slackertums an, dass dann Protagonisten wie Die Sterne und Blumfeld pflegen werden. Gleichzeitig erliegt der hiesig Popmarkt einer kurzen Phase der Irritation, zumal im Grunge-Gegenprogramm hektische Techno-Mucke läuft, die heute verschämt unter dem Begriff Eurodance bekannt ist und seinerzeit von „Dancefloor-Acts“ wie DJ Bobo, 2Unlimited und Culture Beat stolz angeführt wurde. Daneben gibt es dann natürlich noch etablierte Pop-Helden wie die Toten Hosen, Westernhagen und natürlich Die Ärzte. Was der Indie-Gymnasiast zu jener Zeit jedoch schmerzhaft vermisst, ist das deutschsprachige Pendant zu Kurt Cobain und Kollegen - bis schließlich Selig um die Ecke kommen und diese Lücke über Nacht schließen.

Grunge und Siebzigerrock gepaart mit RAF-Charme

Selig versprühen nicht nur auf den ersten Blick absoluten Anti-Schwiegersohn-Charme. Mit einer Ästhetik aus damals aktuellem Grunge, Siebzigerrock, permanenter Lungenentzündung, Psychedelic, einem Hauch RAF und enorm viel Pathos, setzen sie laut und grell auf Avantgarde und schlagen damit ordentlich über die Stränge. Aber genau jene explosive Mischung ist es, die für einen kurzen Moment die deutschsprachige Popwelt in Atem hält und den Puls der Zeit vorgibt. Mit dem charismatischen Jan Plewka schien nun endlich auch ein Sänger gefunden, der nicht nur wie selbstverständlich deutschsprachige Texte verfasste, sondern diese auch ohne jeglichen Ansatz von Peinlichkeit und frei von Ironie intonierte. Das schlägt natürlich ein wie eine Bombe. Wenn Ich Wollte, Sie Hat Geschrien und natürlich Ohne Dich sorgen für den richtigen Soundtrack im Sommer `94. Nur ein Jahr später veröffentlichen Selig ihren zweiten Langspieler "Hier". Textlich driftet Plewka noch mehr in esoterische Marihuanalyrics ab, während Christian Neander versucht, seiner Gitarre immer noch dunklere und härtere Riffs zu entlocken. Es folgen die erste ausverkaufte Headliner-Hallentour, zahlreiche Festival-Auftritte, Interviewtermine am laufenden Band und insgesamt 14 Videodrehs. Nach nur drei Jahren ist die Band am Zenith seiner künstlerischen Schaffenskraft angelangt - und auch am Ende seiner Kräfte. Das Arbeitspensum ist so enorm, dass der grelle Rockzirkus Selig daran langsam aber sicher zu zerbrechen droht.

Das waren vier Jahre Achterbahnfahrt, die andere wahrscheinlich in die Klapse oder umgebracht hätte. Wir waren 48 Stunden am Tag nur Selig, Selig, Selig. Wir hatten kein anderes soziales Umfeld mehr und sind am Ende an Reizüberflutung fast erstickt.
(Jan Plewka, resümierend über sein Leben als 90er-Jahre Rockstar)

Im Winter '96 spielen Selig den Soundtrack zum Til Schweiger-Film "Knockin' on Heaven's Door" ein. Für die rein instrumentalen Score-Tracks verwendet die Band allerdings das Pseudonym Digital Elvis & Zero. Warum weiß niemand so genau. Um Abstand von sich selbst zu gewinnen, begibt die Band sich im darauf folgenden Sommer nach New York, um dort das dritte Album "Blender" aufzunehmen. Erstmals wagt man elektronische Klangexperimente und tüftelt länger an den Sounds als bisher. Mit Erfolg. Im Vergleich zu den beiden Frühwerken klingt "Blender" selbst heute noch zeitgemäß produziert. Doch die Spannungen innerhalb der Band nehmen immer größere Dimensionen an. Besonders zwischen Plewka und Neander kracht es nun regelmäßig. Ende des Jahres verlässt Plewka schließlich samt Frau und Kind das Land gen Schweden und mit seiner Flucht wird auch das Ende der Band eingeleitet. Ein Großteil der Selig-Jünger zwängt sich fortan in viel zu enge Trainingsjacken und lässt sich Scheitelfrisuren wachsen, um ab sofort den Klängen der Hamburger Schule zu lauschen. Allen voran: Tocotronic.

Die Ex-Mitglieder von Selig hingegen versuchen nun ihre Solo-Karrieren anzutreiben, was mal mehr, mal weniger erfolgreich gelingt: Gitarrist Neander schreibt unter anderem die Boybands Echt und Cinema Bizarre in die Charts, während seine eigene Band KungFu nicht wirklich was reißen kann. Jan Plewka steht und fällt mit seiner rauchigen Ausnahmestimme. Während sein janusköpfiges Soloalbum "Zuhause, Da War Ich Schon" (2002) großartige Songs abwirft, schießen seine Bandversuche "TempEau" (2006) und "Zinoba" (2005) populärgeschmackstechnisch komplett am Ziel vorbei.

Und Endlich Unendlich

Und nun, zwölf Jahre nach "Blender", entsteigen Selig urplötzlich wie Phoenix der Asche und veröffentlichen mit "Und Endlich Unendlich" ihr viertes Studiowerk, das nahtlos an seine Vorgänger anknüpft. Ob der Band damit eine musikalische Renaissance gelingt, ist fraglich, denn herausgekommen ist ein Anachronismus an Platte, welche komplett am Zeitgeist vorbei rockt. Funktionieren könnte das Ganze trotzdem. Dafür sorgen die kompositorische Weiterentwicklung, die neuerliche Melodieverliebtheit und nicht zuletzt die Refrainfixierung, die bei früheren Selig-Aufnahmen immer ein wenig vernachlässigt wurde. Die erste Vorab-Single „Schau Schau“ ist ein wahrer Bastard an Song, ein Ohrwurm, der einem den ganzen Tag über verfolgt, hört man ihn im Frühstücksradio. An ihr kann sich das Album erhobenen Hauptes messen lassen, denn viel schwächer klingen die restlichen Songs auf "Und Endlich Unendlich" auch nicht. Da war er wieder, der Pathos.
foto: universal


selig
"und endlich unendlich"
vertigo / universal, 2009 cd, cd+dvd
selig

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Damon Lindelof, J. J. Abrams, Jeffrey Lieber [Lost]

Die Wahrheit ist nirgendwo da draußen.
Als popkulturell gebildeter Mensch sollte man einen Oceanic Airlines Flug stets dankend ablehnen, denn seit 1996 verhieß dies nie etwas gutes. Doch dieser eine spezielle Flug sticht in der Geschichte der Fluggesellschaft ganz besonders hervor.

"4, 8, 15, 16, 23, 42"
(mega lotto jackpot gewinnzahlen)


Bereits als der Absturz des Oceanic Airlines Passagierflugzeug auf dem Flug 815 von Sydney nach Los Angeles am 22. September 2004 das erste Mal gezeigt wurde, war nichts mehr in Ordnung. Weder für die 48 Überlebenden des Fluges, noch für uns Zuschauer.

Noch bevor die unter Schock stehenden Überlebenden die letzten notdürftigen erste Hilfe Maßnahmen durchgeführt haben und sich das kleine Stück Strand erschließen können, auf welches sie aus heiterem Himmel mit dem Vorderteil der Maschine gestürzt sind, ereignen sich mysteriöse Geschehnisse die dazu beitragen, dass das allgemeine Konzept von Wirklichkeit unliebsam überstrapziert wird.

Die episodische, durch Rückblenden durchzogene Form der Serie erlaubt es immer mehr Teile in das seltsame Puzzle Lost einzufügen und genau hier beginnt das Verwirrspiel mit unseren eignen Erwartungen. Ganz wie die zahlreichen Seriencharaktere begeben wir uns ständig auf die Suche nach der Wahrheit und reflektieren dabei in den wenigsten Fällen, welche Probleme wir uns damit einhandelt.

In einem weit verbreiteten und dem Common sense entliehenen Ansatz, betrachten wir Wahrheit im Sinne der Korrespondenztheorie: wir vergleichen, einfach ausgedrückt, unsere Gedanken Vorstellungen, Annahmen oder Theorien mit der Wirklichkeit; sind Gedanken und Wirklichkeit deckungsgleich, sprechen wir davon, dass diese wahr sind. Stimmen sie nicht überein, sind sie eben nicht wahr. Um nicht in metaphysische Verlegenheit zu geraten, lassen wir das Problem, wie diese Übereinstimmung aussehen soll, etwa ob die "Form" der Wirklichkeit mit der "Form" unserer Gedanken korrespondieren soll, beiseite. Es ergibt sich jedoch noch eine weitere, nicht zu vernachlässigende Problematik: gibt es tatsächlich eine feststehende Welt der Wirklichkeit, die unabhängig von der Welt unserer Erfahrung existiert und mit der wir unsere Eindrücke vergleichen können? Ohne dies beantworten zu müssen können wir annehmen, dass, sollte eine solche Welt existieren, wir auch diese durch die selbe Brille betrachten würden, deren Gläser durch unsere individuellen und kulturellen Erfahrungen geschliffen wurden. Kurz: was wir als wahr annehmen hängt stets von unserer Perspektive ab und es scheint keine einzunehmende Position außerhalb unserer Überzeugungen zu geben, von der aus wir die Möglichkeit haben eine Übereinstimmung überprüfen zu können. Vielleicht sind wir gerade deshalb stets versucht alles uns nur mögliche zu unternehmen, um Widersprüche in die Kohärenz unserer Wahrheitskonzeption zu integrieren.

Gerade vor diesem Hintergrund scheint Lost das erkenntnistheoretische Dilemma exemplarisch zu beleuchten: Betrachten wir zunächst Jack Shepard, von dem wir als Zuschauer – gleichwohl wie von den anderen Charakteren - mit großer Wahrscheinlichkeit weitaus weniger wissen als wir annehmen. Er vertraut offensichtlich auf ein rationelles, naturwissenschaftliches Konzept von Wahrheit, was vielleicht kaum verwunderlich ist, wissen wir doch, dass er Mediziner ist. Immer wieder ist Jack darin bestrebt, alle auftauchenden Ereignisse und Ungereimtheiten mit naturwissenschaftlichen Methoden und logischen Schlüssen zu erklären und sieht sich dazu genötigt, seine Überzeugungen vor einem Zusammenbruch aufgrund unvereinbarer Widersprüche – wie dem leeren Sarg seines Vaters auf der Insel – zu schützen.; etwa mittels Verdrängung. John Lock hingegen, als eine Shepard entgegengesetzt stehende Hauptfigur der Serie, vertritt eine weitaus spirituellere Wahrheitskonzeption, doch auch mittels dieser gelingt es ihm nie ganz die bizarren Ereignisse kohärent erfassen zu können. Immer wieder finden wir ihn zerrissen und verzweifelt, wenn er über eine lange Zeit hinweg fest daran glaubte, "die Insel" endlich verstanden zu haben und dann doch mit Widersprüchen konfrontiert wird.

Dennoch sind diese, hier exemplarisch aufgegriffen Figuren nicht auf jeweils eine Perspektive fixiert. Lost entwickelt seine Charaktere in Schüben zu runden, sehr komplexen Figuren, die nicht nur immer wieder in der Lage sind ihre Leidensgenossen, sondern auch uns als Zuschauer zu überraschen. Als ein gutes Beispiel lassen sich hier neben Jack und Lock sicherlich Charlie Pace, Locks Protegé, der zwischen der Rolle des hedonistischen Rockstars und der aufopferungsvollen Familienfigur hin und her wechselt, oder der charismatische Weltenbummler Desmond David Hume und seiner an Alan Moores Figur des Dr. Manhattan erinnernden simultanen Wahrnehmung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufführen. (Eine ausführliche Betrachtung der philosphischen Namensverweise leistete die Spex bereits in der Ausgabe 314.)

Die persönliche und uns oft gar nicht so bewusste Haltung gegenüber dessen was wir als Wahrheit akzeptieren, spielt bei der Partizipation eine nicht zu unterschätzende Rolle. Je nach Sichtweise – und in deren Verankerung spielen vermutlich unzählige gesellschaftliche, psychologische, kulturelle und andere Aspekte eine Rolle – gehen die einzelnen Charaktere unterschiedlich mit den undurchsichtigen Ereignissen um. Und immer wieder spielt Lost auch mit der Beziehung zwischen dem Zuschauer und eben diesen Charakteren und jenen Ereignissen auf der Insel im Nirgendwo des Pazifik; nur wenn wir uns unsere eigenen Konzeptionen deutlich machen, können wir uns davor schützen nicht selbst in die Falle unserer eigenen Erwartungen zu tappen. Denn durch die Struktur der Serie wähnen wir uns zusehens in Gewissheit bezüglich verschiedenster Vorkommnisse, investierten immer wieder Gedanken und Schlüsse die für uns schlichtweg wahr sind, jedoch nur so lange, bis wir (wiedereinmal) einsehen müssen, dass sie nur unter einem bestimmten Blickwinkel als wahr aufzufassen sind. Ändert sich die Perspektive, so ändert sich die Zuschreibung. Auf diese Weise scheinen wir selbst von der Insel gefangen zu sein.

Durch diese Komplexität entfaltet sich eine polyphone Erzählstruktur in der keine Position die Oberhand gewinnt, sondern als sich widersprechende Perspektiven gleichberechtigt existieren. Die mysteriöse Zahlenreihe ist ein gutes Beispiel hierfür. Ich plädiere dafür zu sagen, dass eben dieser Widerstreit einen großen Teil der Wirkung der Serie ausmacht. Da keine auktoriale Position zu beziehen ist, befindet man sich beim Betrachten im gleichen Dilemma wie in der eingangs erwähnten Korrespondenztheorie; es gibt auch hier keine einzunehmende Position außerhalb unserer auf die Serie bezogenen Überzeugungen, von welcher aus wir die Möglichkeit hätten, etwaige Übereinstimmungen überprüfen zu können. Erst mit einer solchen Perspektive ließe sich das Bestreben von Jack oder Lock (oder uns) als ironisches Verkennen der Wahrheit entlarven. Denn schließlich entzieht die Polyphonie dem Konzept der Ironie schlichtweg den Boden. Und genau hier ergibt sich auch die Fehlerhaftigkeit der Puzzle-Analogie: bei einem Puzzle weiß man immer, dass am Ende alle Teile in einem zwar unbekannten, aber dennoch bestimmten Bild münden werden. Im Konzept der Polyphonie hingegen ist es bereits fraglich, ob sich die einzelnen Teile überhaupt miteinander verbinden lassen.

Doch hierin könnte letztlich das Dilemma der Serie selbst liegen, dass diese nämlich nur im Status nascendi, im Moment des Entstehens, der Gegenwärtigkeit funktionieren kann. Mit einer am Ende alles erklärenden, geschlossenen Erzählung würde dies polyphone Struktur aufgelöst – in beiderlei Sinne des Wortes - und auf eine simplifizierende Eindeutigkeit reduziert werden. Auf der anderen Seite lesen sich zahllose Beiträge in Blogs dahingehend, dass nichts anderes als eine eindeutige Auflösung am Ende der sechsten Staffel in Frage kommen darf.
foto: buena vista


damon lindelof, j. j. abrams, jeffrey lieber
"lost"
2004-2010

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