Talons [Songs for Babes]

Ein paar wörtlich zu nehmende Anekdoten, eine Ansammlung von Frauennamen und ein Repertoire an eigentlich ganz alltäglichen Hintergrundgeräuschen zaubern ein Album zusammen, das berauscht – und viel verrät.

"There is a lot in these songs that is recorded and then mixed just below the level of being audible. I hoped it would have some unconscious effect, but it probably is just inaudible."
(mike talon)


1. Natalie
Von Genres halte ich nicht besonders viel. Aus diesem Grund möchte ich das Album mit einer Genrebezeichnung betiteln, die sich von üblichen abhebt, und die ich auf einem Blog namens slowcoustic.com fand: Bedroom folk. Denn Folk ist nicht gleich Bedroom folk, und es steht außer Frage, dass Mike Talons kleines, zusammen geschnippeltes Album zum Thema (Ex-)Freundinnen keiner besseren Bezeichnung gerecht werden könnte, ist es doch auch größtenteils in einem Schlafzimmer geschrieben und aufgenommen worden. Eigentlich kann "Songs for Babes" nirgendwo anders hinpassen.

2. Maddy
Auf dieser Platte findet sich eine ganz neue Definition von Musik: Wurde unter diesem Begriff bisher doch das Zusammenspiel verschiedener Instrumente und Gesang verstanden, schneidert Mike Talon gemeinsam mit Freunden Musik aus einer ganzen Bibliothek von Sounds. Hier wird Musik mit markanten Polizeisirenen – wie in Maddy -, dem Rauschen vorbeirasender Züge, Regenprasseln, Möwenschreien, Meeresrauschen und allerlei anderen Nebengeräuschen gemacht, die nicht immer mit Absicht dort gelandet sind, wo man sie im Endeffekt hören kann.

3. Erin
So hört man ganz versteckt, ganz fern, in Erin jemand anderen ein anderes Lied singen – sein Freund Keith nahm einen Stock unter ihm ebenfalls ein Lied auf, wie Mike Talon in einer kleinen Stellungnahme verrät. Auch erfahre ich, dass das Lied Erin einer Frau mit selbigem Namen, die er auf einem Konzert kennenlernte und die ihn faszinierte, gewidmet ist, der er aber aus verschiedenen Gründen nicht nach Hause folgen konnte. „Oh Erin, I wish I would have followed you home“ - und ein mysteriöser Hinweis auf den elften September.

4. Angela
Ganz offensichtlich ist Talon ein Mann, der seine Musik nicht unkommentiert lassen kann. So gibt es ein Dokument zu lesen, in dem zu jedem einzelnen seiner bisher veröffentlichten Songs eine Erklärung niedergeschrieben steht. Ich erfahre, dass die Geschichten hinter den Liedern auf "Songs for Babes" alle wahr sind – Mike Talon verwendet nicht einmal Metaphern.

5. Rachel
Langsam sollte klar geworden sein, dass "Songs for Babes" rezensieren auch Mike Talon porträtieren heißt. Dass Künstler in einer direkten Verbindung zu ihrem Werk stehen, muss hier nicht gesagt werden, aber selten geschieht das auf so bewusste und konfrontale Weise wie auf diesem Album.

6. Mich
Mike Talon will nicht, dass irgendjemand dieses Album hört, ohne nur an ihn zu denken – denn er will über Wahrheit singen, sagt er selbst, „also war der leichteste und schwerste Weg zugleich, über mich selbst zu schreiben“. Demnach ist Talon ein Einzelkämpfer und sein Album ein wandelndes Selbstporträt. Dennoch stecken hinter diesem Album mehr Köpfe noch als bloß dieser eine.

7. Juice
Der Song Juice zeigt dies besonders deutlich. Nicht nur widmet sich dieses Lied einer jungen Frau, die die „Creative Community“, in der Talon sich in Akron, Ohio, bewegt, stark beeinflusst; es wurde ursprünglich auch für eine andere Band, Black Clover, geschrieben, in der er sich hin und wieder, aber niemals fest, bewegte. An diesem Lied sind außerdem, wie an vielen anderen des Albums auch, seine Freunde beteiligt. Keith Freund (ja, so heißt er wirklich!) hat sich mit Klavier und Gitarre dazugesellt.

8. Sam
Der obligatorische Vergleich mit bekannteren Künstlern soll hier nicht wegfallen, aber kurz gehalten werden: "Songs for Babes" erinnert im Stil an Neil Young und Will Oldham.

9. Taz
Veröffentlicht wird Songs for Babes am zweiten September bei Own Records. Innerhalb der USA ist es beim Label „Bark And Hiss“ bereits erschienen, welches auch schon einige andere Platten wie das Debutalbum "Falls' Chagrin" aus dem Jahre 2005 an den Mann brachte. Mike Talon rät auf der Website von Bark and Hiss dazu, die Platte "Rustic Bullshit" zuerst zu hören – einen Grund nennt er nicht, aber es könnte angenommen werden, dass es sich hierbei einfach um das beste Album handelt. Meiner Beobachtung entsprechend ist es das bisher vielfältigste und facettenreichste Album, das Mike Talon aufgenommen hat. Verschiedene Demos für selbiges sind, wie das Album auch, zum freien Download verfügbar.

10. (Ni)'cole
Sowieso scheint Herr Talon traurig zu sein, dass ihm die Veröffentlichung von "Songs for Babes" im Internet von Own Records noch vorenthalten wird – er stellt stattdessen ähnliche Versionen der Lieder online. Jeder, der ein wenig Zeit investiert, kann hier deutlich eine Entwicklung feststellen. Mike Talon ist stilsicherer geworden, seine Musik hat an Konsistenz – wenn dieser Begriff im Bereich Musik zutreffen kann – gewonnen.

11. Lula
Besonders das Albumkonzept von "Songs for Babes" sei hier noch einmal hervorgehoben: Es ist das erste Album von Talons, das so offensichtlich ein Ganzes bildet, das nicht funktioniert, wenn ein Track fehlt. Aus diesem Grund finden sich in dieser Rezension auch die Songtitel und ihre Reihenfolge wieder. Das Lied Lula wirkt hier besonders, denn es enthält noch einmal alle Stilmittel und Melodien, die die anderen Lieder ausmachen. Talons bezeichnet es selbst als eine Art Collage des Albums, die eigentlich am Schluss gestanden haben sollte.

12. Sommer
Doch es kam anders, denn die einzige junge Dame, die immer noch an Mike Talons Seite steht, ist Sommer Miller – offensichtlich kam diese Entwicklung für Mike überraschend. Sie ist Künstlerin und ist für das großartige Artwork des Albums verantwortlich. Allerdings war sie bestimmt nicht begeistert, als sie erfuhr, dass Mike in Gedanken noch an so vielen verschiedenen Frauen hängt. Mit denen muss sie sich jetzt eine Platte teilen.
foto:


talons'
"songs for babes"
own records, 2009 cd
talons

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600 Wörter [Popliteraten und ihr Sport]

Wie sportlich ist der Schriftsteller?






Vor kurzem habe ich in meinem Blog einen kleinen Eintrag geschrieben unter dem Titel "Wie sportlich ist der Schriftsteller". Darin ging es um die Notwendigkeit der sportlichen Ertüchtigung als Beitrag zur Senkung der Gesundheitskosten im Anbetracht dieses Berufes, der nahezu nur im Sitzen ausgeübt wird, die von den AutorInnen nie diskutiert wird.

Einzig Ausnahmen wie John Irving mit seiner Vergangenheit als Ringer, die er in seinen Büchern immer wieder gerne literarisch verwertet (mittlerweile wissen wir es, John), bestätigen die Regel. Noch einer mit einem Faible für Sport, der mir gerade einfiel, war Friedrich Torberg, der bekanntlich Wasserball spielte und das angeblich gar nicht mal so schlecht. Ein Leser hat darauf hin in einem Kommentar den Gedanken angeregt, ein Buch mit dem Titel "Schriftsteller und ihr Sport" herauszugeben. Sollte sich ein Verleger nun inspiriert fühlen: Die Idee verbuche ich für mich, als Bezahlung bitte ich um nichts weiter als ein Freiexemplar.

In dem Moment, in dem ich mir dieses Buch vorstellte, kam mir der Gedanken, ganz in der Tradition der Schubladisierung, ob in den verschiedenen Sparten der Literatur den Schriftstellern eindeutige Vorlieben zuordenbar wären. Wie zum Beispiel: LyrikerInnen bevorzugen Meditatives wie TaiChi, Bestsellerautoren der Belletristiklisten treffen sich beim Golf und Tennis, die Esoteriker lieben Capoeira und Zen-Bogenschießen.

Schreibende sind gerne aufgefordert mir zum Zweck der Verifizierung dieser Theorien statistisches Material zu senden und zwar in der Form: Alter / Literatursparte / Ausgeübte Sportarten / Breiten- oder Leistungssport. Ergebnisse veröffentliche ich gerne in Zahlen in meinem Blog.

Bei allen diesen Überlegungen machte ich mir Gedanken darüber, was die entsprechende Sportart für einen Popliteraten wäre. Der Popliterat als Gattung gesehen ist mir noch nie von Angesicht zu Angesicht begegnet, er manifestiert sich in meiner Umgebung lediglich als temporäre Erscheinungsform bei Jungliteraten, die sich von zwölf bis (manchmal über) fünfundzwanzig Jahren darin gefallen, zum Ausdruck ihres - und der ihrer Hauptfiguren - Charakters Liedtexte zu zitieren. Auch mir wurde einmal „Popschreibe“ unterstellt, was sich aber nicht mehr wiederholte, nachdem in meinen Texten fast nie wieder Musik vor kam.

Die auf diesem Gebiet Unbewanderten werden jetzt sagen: Man muss doch nicht Popmusik zitieren, man kann doch auch auf weniger bekannte Liedtexte oder auf die alternativer Musikrichtungen zurück greifen. Ja. Man kann. Allerdings muss man dabei berücksichtigen, dass sich der Leser nicht gerne dumm vorkommt. Erwähnt man nun oft etwas, was der Leser nicht kennt, mutiert er im Bezug zum Text zum Außenseiter, der nichts mehr versteht, auch auf der Gefühlsebene – da die Liedtexte auch verwendet werden um Stimmungen zu transportieren.

Popmusik ist aber genau das, was im Wort steckt: Populär. Also meistens dem Leser bekannt, auch wenn es nicht seine Lieblingsmusik sein muss. Aber ich schweife etwas vom Thema ab.

Am Ende meines Gedankenganges stand, dass ein Popliterat und sein weibliches Pendant mit aller Wahrscheinlichkeit exzessiv dem Discotanz frönen und darum keinen Sport treiben. Warum? Aus reiner Zweckmäßigkeit. Immerhin muss man am Puls der Masse bleiben, die neuesten Beats kennen, die Stimmung im Club zur Musik abchecken, den Puls der tanzenden Menge aufnehmen und die schweißige Tanzbodenluft einsaugen wie ein Schwamm.

Vielleicht haben einige der Kollegen der Sparte Popliteratur dazu auch schon einen Dancemove erfunden: Den „Notetaker“. Mit schwungvoller Geste wird aus der Gesäßtasche ein Notizbuch hervor geholt, in das mit ausholenden Bewegungen Namen der Band, Songtitel und Stimmung notiert werden. Dabei immer weiter rhythmisch mit den Hüften wackeln. Fortgeschrittene können am Ende eine kleine Drehung einbauen, bei der das Notizbüchlein unauffällig verstaut wird.

Somit kann von einer rein im Sitzen zu erledigenden Arbeit keine Rede mehr sein und die angesprochenen Kollegen sind von sportlichen Ertüchtigungsmaßnahmen weitgehend befreit. Als Attest gelten Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien.
Text: Cornelia Travnicek. Hier findet sich Frau Travniceks Blog.
illustration: j.e. støresund

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Judith Hermann [Alice]

Zwischen Leben und Tod, Vergangenheit und Gegenwart, (Er)leben und Erinnern, Alltag und Abschiednehmen – Judith Hermanns Protagonisten oszillieren in ihrem dritten Prosaband "Alice" zwischen fünf Erzählungen und eindeutigen Zuständen. Als einzig sichere Komponente des Lebens ist der Tod allgegenwärtig.


"astronauten, dachte alice, wir sind wie astronauten, es gibt nirgends einen halt."
(alice)


Geht es in der Literatur um den Tod, wird zumeist laut geklagt und getobt; die Grauzone zwischen dem Eintreffen der Nachricht und dem Beginn des Verarbeitens - das Gefühl vor dem großen Bewusstsein, dass ein Mensch nicht mehr wiederkommen wird, wird selten thematisiert. Judith Hermanns Protagonistin Alice hat gleich fünf Verluste zu beklagen und tut es doch nicht laut. An unterschiedlichen Stationen ihres Lebens stößt der Leser zu ihr, um sie in der kurzen Sequenz des Abschiednehmens zu begleiten – von alten Liebschaften, einem väterlichen Freund, Verwandten. Genaue Definitionen der zwischenmenschlichen Beziehungen bleiben aus – genau wie umfassende Charakterisierungen der Scheidenden. "Alice" ist kein Nachruf auf die Toten, sondern eine Bestandsaufnahme von dem, was zurückbleibt, wenn da einer nicht sterben kann, einer überraschend geht oder freiwillig gegangen ist.

Judith Hermann schreibt um die „zentrierte Leere“ herum, wie sie sie nennt. Um das Gefühlsvakuum, die Taub- und Stummheit, die zuschlägt wie ein Gegenstand, der dem Zurückbleibenden dumpf auf den Kopf fällt – und schafft dabei das (fast) Unmögliche, diese Sprachlosigkeit in Worte zu fassen. Im Japanischen wird der Zustand des „Dazwischenseins“, der (Wahrnehmungs-) Raum zwischen Personen, Ereignissen, Räumen und Zeiten mit dem Begriff 'ma' eingefasst; wie im Buddhismus wird eine Aufmerksamkeit für Übergänge entwickelt, wird diesen ein besonderer Stellenwert eingeräumt. In Hermanns Prosa drückt sich diese Achtsamkeit in den für sie typischen subtilen Beobachtungen aus, die man bereits aus ihren ersten Werken "Sommerhaus, später" und "Nichts als Gespenster" kennt.

Während. Zu denken, dass während sie an der Tankstelle gehalten hatten, der Rumäne in den Himmel geschaut hatte, ein Falke ein Adler ein Bussard. Während Alice die Tür der Eistruhe aufgeschoben, Anna das Wort Cornetto gesagt hatte, der Tankwart mit den Fingern auf dem Tresen und Lotte im Auto, ihr Profil vor dem Berg, unbewegt hinter den getönten Scheiben, und Alices Hand in slow motion in der Tiefe der Eistruhe in einem Pappkarton, aufgerissen voller Wassereis, Himbeere, Zitrone und Waldmeister, wie heißt dieses Eis, hatte der Rumäne gefragt, Dolomiti hatte Alice gesagt, da war Conrad gegangen. In einem heißen Zimmer am Ende des Ganges mit gleißendem Licht hatte sein Herz geflimmert und dann aufgehört zu schlagen, einfach so, und kein auf Wiedersehen, das war es gewesen.

In ihren oft seltsam sperrigen Sätzen hallt immer wieder die Überraschung darüber nach, dass der Tod nicht mit lautem Getöse in den Alltag einbricht, sondern sich vielmehr mit leiser Selbstverständlichkeit hineinschleicht - ein Versuch, dessen unprätentiöse Gestalt mit der Größe des nachklingenden Gefühls zu vereinbaren. Man mag Judith Hermanns spröde Sprache besonders in Bezug auf diese Thematik als distanziert oder gar emotionslos wahrnehmen – oder aber es als wohltuend empfinden, dass sie dem Leser durch die oft nicht ganz greifbare Bedeutung der Worte genug Raum lässt für eigene Überlegungen und Empfindungen. Ein Gespür dafür zu entwickeln, wie viele unterschiedliche Formen Trauer annehmen kann, wie groß der Irrtum wirklich ist, unsere Nächsten für unverwundbar zu halten und auch, wie nebensächlich die Dinge wirken können, die letztlich Schmerz oder Trost bedeuten können. In der Erzählung Raymond beispielsweise geht Alice zwar mit beinahe ungeheurem Pragmatismus an das Aussortieren dessen zurückgelassener Sachen, doch als sie in einer seiner Jacken den Rest eines Mandelhörnchens findet, bricht völlig unvorbereitet alles um sie herum zusammen.

Raymond. Hatte Hunger gehabt. Lebendigen, einfachen Hunger. Sich ein Mandelhörnchen gekauft. Das hatte er nur in einer einzigen Bäckerei getan, sonst nirgends. [...] Wie früher. Im Winter – die Tüte steckte in der Tasche seiner Winterjacke neben einem Handschuh, wo war der andere Handschuh hin, und war Alice dabeigewesen? War sie dabeigewesen, als Raymond das Mandelhörnchen gekauft hatte, hatte er ihr ein Stück abgebrochen, abgegeben oder in den Mund gesteckt, am Mittag oder Nachmittag oder Morgen eines Tages mit Kälte und Wind und während sie nebeneinanderher gegangen waren, Alices Arm in Raymonds Arm und ihre Hand mit hinein in seinen Handschuh geschoben; möchtest du noch, nein danke, und das letzte Stück in die Tüte zurückfallen lassen, sie zusammengedreht, in die Jackentasche gesteckt. Wann.


Dass das, was einem letztlich das Genick bricht, die Erinnerungen an die kleinen Details sind, die einen geliebten Menschen ausgemacht haben, zieht sich wie ein feiner Haarriss durch die Seiten; die Erkenntnis, dass der Weg eines Zurückgebliebenen ein schmaler Grat ist, ein Dazwischen, das wie im Japanischen „nichts“, „dazwischen“, „Beziehung“, „Leerstelle“ oder „etwas“ bedeuten kann.

Weit entfernt zog ein spätes Flugzeug hoch in den Himmel, und sie dachte daran, wie Raymond in einer der ersten Nächte, die sie so zusammensaßen, gesagt hatte, das Geräusch eines Flugzeuges in der Nacht mache ihn traurig. Wieso, hatte Alice gesagt. Weil es so ist, als wäre es das letzte mögliche Flugzeug gewesen. Für mich, hatte Raymond gesagt, und Alice hatte etwas daran verstanden und etwas anderes nicht, und etwas hatte sie auch gekränkt. Wann immer sie ein Flugzeug sah in der Nacht, musste sie daran denken.
foto: juergen bauer



judith hermann
"alice"
s. fischer verlag, 2009

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Thomas Hall, Daniel Bradford [Robot 13]

Würde ein künstliches Wesen von Menschenhand erschaffen, das tatsächlich zu denken fähig wäre, was würde es über sich selbst denken? Vielleicht ist dies der Grundgedanke, der hinter dem mignolaesken Comic-Debüt Robot 13 steckt. Und zu beeindrucken weiß!

"what is it cap? could be a diver, yeah?"
(ein matrose)


Ein ruppiger Kapitän, dessen weißes Haar im Wind weht, steht an Bord eines Fischkutters und richtet einen ernsten Blick auf seine Crew. Kurz zuvor machte ihn einer seiner Matrosen auf einen mehr als ungewöhnlichen Fang aufmerksam. Kapitän und Crew scheinen sich in einer Welt zu befinden, in welcher man es sich nur in zwielichtigen Tavernen und bloß hinter vorgehaltener Hand wagt, über einen fremdartigen Harpunier namens Queequeg zu erzählen, oder sich gar bei einem Krug Rum mit haarsträubenden Geschichten über einen gewissen Kapitän Nemo und dessen sagenumwobenen Schiff Nautilus zu überbieten versucht. Eine Sekundärwelt, verortet irgendwo zwischen der überbordenden Zeit der Romantik und den Anfängen der industriellen Revolution. Und der seltsame Fang, von dem eben jener Matrose seinem Kapitän berichtet, ist ein metallener Apparat mit menschlichen Gliedern und einer großen Glaskuppel auf dem Rumpf, in welcher ein menschlicher Schädel zu schwimmen scheint. Eine große 13 ist auf dessen Stirnbein zu lesen und diese gibt nicht nur dem seltsamen Geschöpf, sondern auch der jungen Comic-Reihe ihren Titel, deren beeindruckende Erstausgabe gerade im New Yorker Museum of Comic and Cartoon Art der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.

Hinter "Robot 13" stecken Autor Thomas Hall und Zeichner Daniel Bradford, die sich 2003 dadurch kennen lernten, dass sie Fan der Arbeit des jeweils anderen waren und nun miteinander kooperieren wollten. Beide gründeten den unabhängigen Comic Verlag Blacklist Studios, um auch im Angesicht der finanziellen Nöte größerer Verlage ihre Arbeiten veröffentlichen zu können. Dank der modernen Telekommunikationstechniken bereitet auch die Tatsache, dass die beiden an den jeweils entgegengesetzten Küsten der USA leben, der Zusammenarbeit keine größeren Probleme. „With technology, we can work very smoothly together in this way“, erklärt Thomas Hall, obwohl beide es genießen zusammen auf Comic Conventions zu fahren, um dort gemeinsam ihre Arbeiten vorzustellen; wie eben kürzlich im New Yorker MoCCA.

Während Bradfords beeindruckende Arbeiten fraglos von Mike Mignolas kantigen Zeichnungen, ikonischen Schlagschatten und holzschnittartigen Konturen inspiriert sind, vereint Hall in seinen Erzählungen so unterschiedliche Einflüsse wie Mary Shelleys Frankenstein, den innovativen Erzählstil von Comicautoren wie Grant Morrison und Neil Gaiman, sowie Strukturelemente Homers griechischer Mythen. In der Tat partizipiert der metallene Protagonist an der traurigen Schwermut von Frankensteins Monster, ist er doch selbst ein künstliches Wesen, dem Leben eingehaucht wurde. Und auf Homers Odyssee bezieht sich Hall sogar explizit, wenn er die ersten drei Ausgaben von "Robot 13" anspricht, welche als Mini Serie eine abgeschlossene Handlung umspannen werden: „Die Odyssee ist eine epische Erzählung, aber sie ist auch eine Geschichtensammlung kürzerer Episoden. Von jedem Schauplatz an den Odysseus getrieben wird, berichtet Homer als eigenständige Geschichte mit einer eigenen Exposition, einer Verwicklung und einer Auflösung.“ Ähnlich dieses Ansatzes wollen die beiden auch mit ihrem Helden und dessen Geschichte umgehen; Jede Miniserie soll für sich verständlich und abgeschlossen sein, doch wird man im Laufe der Zeit ein immer größeres Bild der geschaffenen Welt bekommen; auch dies erinnert nicht von ungefähr and Großmeister Mignola. Zumindest hoffen beide, dass das Interesse an ihrer Serie groß genug ist, um all die Geschichten zu erzählen, die darauf warten erzählt zu werden. Schließlich schwebt den beiden der Rahmen der großen, umfassenden Heldenreise bereits vor. Bradfords außergewöhnliches Talent für athomspärische Darstellungen mit liebevollen Details und beeindruckenden Hintergrundcollagen komplimentiert Halls Erzählungen dabei fantastisch.

Interessanter Weise ist nach Halls Ansicht die Welt von "Robot 13" in ihren wesentlichen, phantastischen Zügen der unseren gar nicht so unähnlich. Der Riesenkrake zum Beispiel, der wie einer Ray Harryhausen nachempfundenen Kreatur in der ersten Ausgabe eine beängstigende Rolle spielt, sei ein Wesen aus den Mythen und Geschichten, die sich Menschen seit ewigen Zeiten überall auf der Welt erzählen, um das Unerklärliche verständlich zu machen. „Menschen haben vor langer Zeit wirklich an diesen Kraken geglaubt, obwohl sie ihn niemals gesehen haben. Wir haben hingegen aufgehört daran zu glauben, weil wir ihn niemals gesehen haben. Auf eine bestimmte Weise sind dies zwei Perspektiven der selben Welt. Und mit 'Robot 13' versuchen wir eine dritte Sichtweise zu erfassen. Der größte Unterschied zwischen unserer 'echten' Welt und der in den Büchern ist, dass das Unerwartete dort tagtäglich geschieht.

Etwas solch Unerwartetes ist eben auch jener seltsame Fang auf besagtem Fischerboot. Bradford und Hall wollten einen sympathischen Charakter erschaffen, von dem der Leser von Beginn an mehr erfahren möchte. Und mehr erfahren möchte man in der Tat, denn die Figur ist so unkonventionell, dass man immer wieder erstaunt ist. Gerade sein erster Auftritt ist mehr als sehenswert und macht deutlich, dass die beiden mit Klischees zu spielen wissen, diese jedoch auch jederzeit überwinden können. So erinnern die ersten Worte des steampunkesquen Roboters nach dem Kampf mit bereits erwähntem Riesenkraken weitaus mehr an einen englischen Gentleman des 19. Jahrhunderts als an einen tumben Blechhaufen. Mehr belesener C-3PO als kraftstotzender T-800. Um der beinahe unzerstörbaren und mit bloßen Händen gegen mythologische Monster ringenden Figur dennoch mehr charakterliche Tiefe zu verleihen, versahen ihn die beiden Macher mit einer Schwäche: er weiß weder wer noch was er ist, womit er eine enge Verbindung mit dem Leser eingeht, der sozusagen gemeinsam mit dem Roboter nach und nach mittels Rückblenden mehr über dessen eigene Geschichte lernt. „Unser Roboter ist in dieser Hinsicht programmatisch für das menschliche Bedürfnis Antworten auf die Frage nach der eigenen Existenz zu erhalten.“

Selten kam die Debüt-Ausgabe einer neuen Comic Reihe so beeindruckend und vielversprechend daher. Ich kann mich der Empfehlung des amerikanischen Eat.Sleep.Geek nur anschließen: "You need 'Robot 13' in your hands, and the guy you buy your comics from needs it in his (or her) store". Und in Deutschland scheint noch kein Verlag auf die beiden aufmerksam geworden zu sein. Dies ist als über deutlicher Wink mit der Harpune zu betrachten!
zeichnung: daniel bradford


thomas hall, daniel bradford
"robot 13"
blacklist studios 2009
thomas hall
daniel bradford
MoCCA

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