кожа [Lebensborn]

Lebensborn fordert heraus und bringt seinen Hörer an die Grenzen dessen, was man sich selber zumuten möchte. Denn mit Lebenbsborn zieht кожа den Hörer hinab in die schattig-schwarzen Abgründe, die unsere Gesellschaft heute, ebenso wie in der Vergangenheit, zu bieten hat. Lebensborn holt einen mitten hinein in alles, vor dem es viel einfacher ist die Augen zu verschließen.

"There is no control of what can’t be controlled."
(meatmarkets II)


Mit Lebensborn betitelten die Nazis Heime, in denen "erbgesunde", "reinrassige" Kinder verschwiegen geboren werden konnten. Ziel dahinter war es die "arische" Rasse anwachsen zu lassen. Ein absurdes wie beklemmendes Vorhaben. Ebenso beklemmend breitet sich Lebensborn als zweites eigen -ständiges Album des Musikers und Produzenten Mirco Dalos aus, der zunächst als Koza und mittlerweile unter dem Namen кожа (russisch: Haut) arbeitet. Musikalisch wird er unterstützt von einer, von ihm selbst so bezeichneten, Biomasse an Musikern, bei der es sich zum Großteil um von ihm bereits produzierte Künstler handelt.

Sich Lebensborn zu nähern bedeutet sich in erster Linie inhaltlich einzulassen. Nur musikalisch verfehlt es seinen Sinn. Denn in sieben Stücken leitet кожа in sieben Abgründe, in die der Hörer mal subtil mal sehr deutlich gelenkt wird. Die Musik tritt dabei fast in den Hintergrund, ist aber dennoch präsent und wohl gewählt. Sie zu greifen ist schwer. Jedes Stück hat nicht nur inhaltlich sondern auch musikalisch einen eigenen Charakter. Mal düster, mal stampfend, mal kriechend, mal barsch. Die jeweils unterschiedlichen Sänger unterstützten diesen Eindruck zusätzlich.

In den ersten Abgrund (Meridian) fällt man blindlings und ahnt nicht, wie tief der Fall wird. Zunächst spricht Adorno in einer Art Prolog über die nahezu Unmöglichkeit wirklicher Kunst in der verwalteten Welt nach der europäischen Katastrophe in Form des Holocaust. Es kann keine wirkliche Kunst geben ohne die Auseinandersetzung mit dem was geschehen ist. Und nach Adorno schafft es kaum jemand, sich dieses Hinsehens zu stellen. Aber dann wird hingesehen und erzählt. Zu stampfendem Rhythmus von dem Geburtstag eines kleinen Jungen. Es geht um schwere Kindesmisshandlung und die Hölle, die ein Elternhaus sein kann. Und die Narben, die niemals wirklich verschwinden. Zu ahnen, dass eine Last an autobiographischen Erinnerungen in diesem Text verarbeitet ist, lässt einen kaum aushalten, was in die Ohren drückt. Es ist vielleicht der härteste Einstieg, den man für eine CD wählen kann. Nicht weiter hören wollen ist ein großer Impuls. Aber in Verbindung mit den Worten Adornos erhält Meridian nach mehrfachem Hören eine weiterreichende Fragestellung, die über die CD hinaus wirkt. Ist das ‚Abnormale’ doch gewollt in einer verwalteten und kontrollierten Welt, und gilt dann selbst Kindesmisshandlung als tolerierte, aber kontrollierte Nische? Und wenn ja, wer profitiert dann davon? Etwas das jeder für sich selber beantworten muss. "Lebensborn" widmet sich dem scheinbar Abnormalem und gleichzeitig dem verwaltet Normalen und es wird deutlich, wie milchig die Grenzen dazwischen liegen.

Nach Meridian wird die Platte anders. Nicht leicht, nicht hell, das wird sie nie, aber anders. Melodischer, musikalischer. Die Themen bleiben weiter bedrückend. Der gewollt genormte identitätslose Mensch (Lebensborn), die Indoktrinierung durch medial verfügbaren Dreck (Your Televangelist), die Fäulnis zwischenmenschlicher Beziehungen (Sound fingers).
In Fearsome Freezone mischen sich vordergründig harmlose Volkslieder mit Zeitzeugen-Aussagen über das KZ Treblinka sowie Auszügen aus einem Interview mit Raul Hilberg zu einem grotesken Blick auf das, was Menschen bereit sind zu verdrängen, obwohl es so deutlich vor ihnen liegt.

кожа scheut sich nicht den Finger gesellschaftskritisch in die Wunden zu legen, verzichtet dabei aber darauf den moralischen Zeigefinger in die Höhe zu recken. Im Gegenteil fordert "Lebensborn" den Hörer heraus sich nicht nur bedienen und beschallen zu lassen, sondern sich mit dem Gehörten auseinander zu setzen und schließlich auch sich selbst zu hinterfragen. Denn es ist sicherlich nicht verwerflich sich gegen Lebensborn zu entscheiden. Manchmal kann man nichts anderes als die Augen zu schließen. Zu verschließen. Weil es unaushaltbar ist immer hin zu sehen, hin zu hören. Aber letztlich sind wir auch erfahren genug um zu wissen, dass das, vor dem man die Augen verschließt, dennoch da ist.
foto:


кожа
"lebensborn"
data file music, 2009 cd
кожа

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Essay [Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?]

Morbides Kinderspiel oder kollektive Angstpsychose? Die Figur des schwarzen Mannes ist ein ambivalenter Topos in der Literatur- und Filmgeschichte. Ob als Gewaltverbrecher in M – Eine Stadt sucht einen Mörder oder als Sandmann bei E.T.A. Hoffmann, der schwarze Mann ist stets pathologisch.


welches Recht habt ihr zu urteilen! wer seid ihr denn… alle miteinander? verbrecher!
(peter lorre in m – eine stadt sucht einen mörder)


Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? ist der Titel eines Kinderspiels, welches sich in mehreren Variationen bis in die heutige Zeit gerettet hat. Der schwarze Mann ist dabei der Häscher. Derjenige, der die anderen Mitspieler immer wieder auffordert, in die Ecke drängt und auf seine Seite zieht. Und obwohl seine Gegner auf die Frage, ob noch jemand Angst vor ihm hat, beständig mit „Niemand“ antworten, so zieht der schwarze Mann im Spielverlauf seine Kreise, tippt seine Gegner an, die dann durch Aufforderung für ihn agieren.

Psychoanalytisch gilt der schwarze Mann jedoch als Inbegriff der kindlichen Angst – eines kollektiven Unbewussten. Jener wird deshalb auch von manchen Eltern eingesetzt, um die Kinder zur Raison zu bringen und sie im Endeffekt auch einzuschüchtern. Das Szenario wird vermutlich jeder kennen: Nach dem Sandmännchen kommt die allseits bekannte Frage: „Darf ich noch ein bisschen fernsehen?“ Mutter und Vater suchen dann händeringend nach Formeln, um das Kind ins Bett zu bewegen. Wenn gar keine Argumente mehr fruchten, versuchen sie es mit dem schwarzen Mann oder einer anderen Kinderschreckfigur: „Tu was ich sage oder der schwarze Mann wird dich holen.“ Das Kind wird dann nörgelnd die Segel streichen und sich fügen. Was die Autorität der Eltern nicht vermochte, wird durch eine fiktive Gestalt erreicht.

Eine Figur ähnlicher Prägung ist der Sandmann, der entgegen der heutigen Annahme, im 19. Jahrhundert noch deutlich abgründigere Charakterzüge trug. In E.T.A. Hoffmanns gleichnamiger Erzählung ist der Sandmann ein Schreckgebilde mit wandelbarem Gesicht, das nachts den Kindern Sand in die Augen streut und im schlimmsten Fall diese dann herausreißt. Was an dieser Erzählung fehlt, ist die Illusion einer intakten Welt: der lange schlohweiße Zottelbart des kleinen Männchens, das wir heute Sandmann nennen, die Heimeligkeit beim Betrachten desselben und die darauffolgenden Kindergeschichten vor dem Fernseher. Der Sandmann Hoffmanns ist ein albtraumhaftes Gegenstück, das nicht viel mit seinem modernen Vertreter gemeinsam hat.

In Jon J. Muth Graphic Novel M (erstmalig 1990 publiziert, seitdem leider vergriffen, jüngst wiederveröffentlicht bei Cross Cult) fehlt ebenso die Illusion einer intakten Welt, denn der schwarze Mann ist in diesem düsteren Szenario in der Gestalt eines Kindermörders Realität geworden. Während Hoffmanns Figur des Sandmanns noch Teil einer psychotischen Traumwelt zu sein scheint, tritt der schwarze Mann in M als ein Albtraum in die reale Welt.

Nach Klaus und Klara Klawitzky wird nun auch Elsie Beckmann vermisst, die mit ihren Freundinnen Ball spielen war und danach nicht zurückgekehrt ist. Alles deutet auf ein Verbrechen. Die städtische Bevölkerung gerät daraufhin in einen andauernden Alarmzustand, doch er, der schwarze Mann ist nicht aufzufinden, denn er hat kein Gesicht. Alle sprechen darüber und keiner weiß, was geschehen ist. Es folgen psychotische Szenen auf der Straße. Bekannte werden denunziert etwas mit dem Morden zu tun zu haben, Passanten werden auf dem Bürgersteig angehalten, weil diese sich mit Kindern unterhalten haben. Als die Polizei weiterhin im Dunkeln tappt, obgleich sie den Fahndungsbereich bin ins Unermessliche ausweitet und immer öfter Razzien im Rotlichtviertel durchführt, beschließen die Barone der Unterwelt selbst nach dem Täter zu suchen. Daraufhin werden an jeder Straße und an jedem öffentlichen Ort Posten aufgestellt, um die Umgebung zu scannen. Mit verschiedenen Mitteln kommen Kriminalisten sowie Kriminelle auf die Spur des Täters. Doch wohingegen die Polizei lediglich die Wohnung und den Namen des Täters ermittelt hat, wird der Mörder von den Baronen der Unterwelt gestellt und soll in einem Prozess der Schuld überführt werden.

In diesem film noir-ähnlichen Setting verbirgt sich ein düsteres Sittengebilde, das Jon J. Muth in gedeckten Braun- und Grautönen nachzeichnet. Inspiriert wurde die Graphic Novel von der gleichnamigen, filmischen Vorlage von Fritz Lang aus dem Jahre 1931. Textlich hält sich Muth dabei sehr stark an das Originaldrehbuch von Lang und Thea von Harbou. Doch M ist – bildlich gesehen – keineswegs eine Kopie des Originals, denn Muth hat die prägnantesten Szenen und Einstellungen aus Langs Film mit einer Gruppe von Schauspielern in Cincinnati nachgestellt. Diese Eindrücke hat er fotografiert und später mit Tusche und Pinsel reinszeniert. So treffen in der Graphic Novel fotorealistische Szenen auf nachgefärbte Hintergründe und einzelne Figuren und Objekte erhalten so eine völlig neue Akzentuierung. Im letzten Kapitel beispielsweise, in dem die Geschichte ihren Höhepunkt erreicht und der Mörder Hans Beckert verurteilt werden soll, scheinen sich die Panels mehr als sonst aus dem Seitenkontext herauszulösen. Sie verschwimmen in einem Film aus Ölfarbe, zwischen Mimesis und Verfremdung, zwischen Ohnmacht und Angst.

Fritz Langs filmische Vorlage

M ist ein wahrer Motivschatz – bildlich wie inhaltlich – und überaus interessant für Comic-Liebhaber. Doch dies ist nicht einzig Jon J. Muth zu verdanken, sondern resultiert auch aus der wirklich dichten Atmosphäre des Films von Fritz Lang. Lang wiederum ist einer der großen Regisseure des europäischen Kinos (Metropolis, Das Cabinett des Dr. Caligari, Die Frau im Mond) und kreierte mit M – eine Stadt sucht einen Mörder nicht nur einen der ersten Tonfilme, sondern auch ein klaustrophobisches Meisterwerk des expressionistischen Kinos.

Bei der Recherche interessierte Lang vor allem das gesellschaftliche Klima der Weimarer Republik und im Speziellen die Auswirkungen von Gewaltverbrechen auf das gesellschaftliche Miteinander: „In den meisten Fällen findet man eine fast gesetzmäßige sich wiederholende Erscheinung der Begleitumstände, wie die entsetzliche Angstpsychose der Bevölkerung, die Selbstbezichtigung geistig Minderwertiger, Denunziationen, in denen sich der Hass und die ganze Eifersucht, die sich im jahrelangen Nebeneinanderleben aufgespeichert hat, zu entladen scheinen, Versuche zur Irreführung der Kriminalpolizei teils aus böswilligen Motiven, teils aus Übereifer.

Daher beginnen Film und Graphic Novel mit einer befremdlichen Sequenz. Man erblickt die Skyline einer unbekannten Stadt – vom Dialekt ihrer Bewohner durchaus mit Berlin vergleichbar –, im nächsten Strip sieht man spielende Kinder, die dabei ein morbides Lied singen: „Warte, warte nur ein Weilchen, / bald kommt der schwarze Mann zu dir, / mit dem kleinen Hackebeilchen, / macht er Schabefleisch aus dir.“ Vorlage dieses schrecklichen Liedes ist Fritz Haarmann, der von 1918 bis 1924 24 Jungen ermordet hat. Die breite Berichterstattung des Falles Haarmann alarmierte die Öffentlichkeit in der Mitte der 1920er Jahre und schuf, neben einer Sensibilität für das Thema des sexuellen Missbrauchs, eine flächendeckende Angstpsychose in der Bevölkerung, denn was Haarmann getan hatte, schien auf einmal überall möglich.

M – Ein moralischer Appell?

Der Haarmann in M ist ein Mann aus der Mittelschicht, der eine ganze Stadt in den Alarmzustand versetzt. Als Hans Beckert (In Fritz Langs Film wird dieser durch Peter Lorre verkörpert) erhält er seine bürgerliche Identität, sein wahrer Charakter ist jedoch weitaus psychotischer und absolut gefährlich. Beckert ist klar ersichtlich ein Wahnsinniger mit einer multiplen Persönlichkeit. Während sein bürgerliches Ich unter seinen Taten leidet, sichtet sein psychotisches Ich schon das nächste Opfer. Dieser Umstand verleiht der Figur eine moralische Ambivalenz, die sich am Offensichtlichsten in der Gerichtsverhandlung zeigt. Beckert wird von den Baronen der Unterwelt zur Rede gestellt. Die Absicht des Wortführers Schänker – selbst wegen Totschlag in drei Fällen gesucht – ist klar ersichtlich: „Wir wollen dich unschädlich machen.“ Doch Beckert zweifelt an der Glaubwürdigkeit des Gerichts: „Welches Recht habt ihr zu urteilen! Wer seid ihr denn… alle miteinander? Verbrecher!“ Folgt man dieser Argumentation so ist die Schuld auch auf der Seite des Klägers zu suchen. Der moralischen Ambivalenz dieser Szene folgt ein Zusammenbruch der Ordnungen von Gut und Böse, von falsch und richtig. „Am Ende“, so schreibt der Filmwissenschaftler Georg Seeßlen „sind alle schuldig, aber niemand ist verantwortlich (schon weil wir niemandem begegnen, der in der Lage wäre, Verantwortung zu übernehmen)“.

Die Figurengeschichte des schwarzen Mannes wird also auch in M – Eine Stadt sucht einen Mörder fortgesetzt. Doch im Gegensatz zum ungreifbaren, weil konturlosen Sandmann bei E.T.A. Hoffmann tritt der schwarze Mann in M wie ein zum Leben erweckter Albtraum in die wirkliche Welt. M ist zugleich jedoch auch ein Rekurs auf die kollektiven Ängste, die nicht nur die Weimarer Republik geprägt haben, sondern beinahe zeitlos sind. Muth und Lang greifen diese Ängste auf und verpflechten sie in eine moribde Geschichte, die leider genauso zeitlos ist wie die Figur des schwarzen Mannes.

oberes Foto: Peter Lorre als Hans Beckert
Portrait: Fritz Lang (Bild von goldenageofhollywood.co.uk)



jon j. muth
"M"
cross cult, 2009







fritz lang
"M - Eine Stadt sucht einen Mörder"
UFA
peter lorre







e.t.a: hoffmann
"Der Sandmann"
Reclam

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Haldern Pop [Rees-Haldern, 13.-15.08.2009]

Vom Glück der Sekunde



"Commuplication"
(festival motto 2009)


Jeder weiß dass es die permanente Glückseligkeit nur in Rosamunde Pilcher Filmen und in der Imagination zweifelhafter Kitschromane gibt. Im realen Leben kommt das pure Gefühl des Glücks eher selten vor und in der Popmusik noch ein bisschen weniger. Vielleicht würden wir es gar nicht bemerken, wenn wir es nicht mit der Lupe suchen müssten, darauf warten könnten um es im Limit des Momentes voll auszuschöpfen.

Es sind ganz unterschiedliche Dinge, die jeden von uns auf eine eigene Weise berühren, aufregen, bewegen. Für den einen ist es das Wiedersehen mit dem Freund am Flughafen, der erste Urlaubstag in einem fremden Land, die erste Currywurst nach 4 Jahren vegetarischer Enthaltsamkeit. Wiederrum andere beziehen ihre Ration Glück und Zufriedenheit aus Musik, aus Akkorden, Melodien, Harmoniken, Stimmen und Rhythmen.

Eine Musikveranstaltung wie das Haldern Pop Festival strotzt regelmäßig nur so vor denk und feierwürdigen Glücksmomenten, Umgebung, Örtlichkeiten und Ambiente sind ebenso hervorragende Indikatoren wie die zurückhaltende Organisation. Seit 26 Jahren reift in Haldern ein beständiges Team dass immer wieder Wagnisse eingeht um die Qualität des Festivals zu bewahren oder sogar zu anzuheben.

Man spürt die Erfahrung und den sicheren Umgang mit Künstlern, Technik und Zuschauern an allen Ecken und Enden, das Konzept wirkt routinierter denn je, entbehrt jedoch nie einem amateurhaften und sorgfältig gepflegtem Charme, auf den Verantwortliche wie Besucher großen Wert legen. Während man sich bei anderen Großfestivals getrost auf die Devise „alle Jahre wieder“ verlassen kann, beschert das Haldern ihren Fans regelmäßig kleine oder größere aufregende, bei manchen sogar zur Sorge ausartende Änderungen und innovative Ideen, die in den Augen einiger an der Verlässlichkeit des Festivals kratzen. Dieses Jahr wurden auffällig viele Singer/Songwriter gebucht, für manche Besucher nach Schema F: Typ bärtiger Melancholiker an der Klampfe. Im Vorfeld wurden vermehrt Rufe nach brüllenden Gitarren, reissenden Riffs und einer fetten Rhythmusmaschine laut. Kurz; man verlangte nach waschechtem Rock. Was manchen als Manko erschien wurde für die allermeisten zu einem roten Faden, der das Haldern gepaart mit dem Sonnenwetter dieses Jahr zu einem vollkommen runden und in sich schlüssigem Wochenende machte. Es gehört eine gesunde Portion Selbstvertrauen und Mut dazu auf einem Festival - wohlgemerkt eine Massenveranstaltung - den Fokus auf das Leisere, etwas Schlichtere in der Popmusik zu legen, und sich nicht davor zu scheuen Künstler wie Bon Iver und die erstaunlich zurückhaltenden und bisweilen belanglosen Noah And The Whale auf die Hauptbühne zu stellen, immer mit dem festen Vertrauen auf ein zivilisiertes und dankbares Publikum. Die Rechnung ging auf, die Auftritte von dem hochmusikalischen Andrew Bird, William Fitzsimmons (demnächst im lichter-Interview!) und Bon Iver wurden trotz manch verwirrender Programmänderung bestens angenommen und fügten sich wunderbar in die rotzigen und experimentellen Sets, die es natürlich auch in ausreichender Zahl gab. Ein für sicher sehr viele prägender Moment war der in der Nachmittagssonne spielende Bon Iver, der bei völliger Stille im Publikum ein höchst intimes und intensives Konzert lieferte, und bei den Zuhörern den Eindruck eines vollkommen unaffektierten Menschen und Musikers hinterließ, der in Haldern wie die Faust auf das sprichwörtliche Auge passte.

Dieses Jahr gab es wie üblich auch wieder einige Wiederkehrer auf den Bühnen, als perfekte Festivalband erwiesen sich am Samstagvormittag die Maccabees, mit neuem Album und gewohntem Charme im Gepäck war ihr Auftritt ein Höhepunkt des Wochenendes. Ebenso Anna Ternheim, die mit vollem Bandaufgebot und (leider unmöglicher)Backgroundsängerin genauso eindringlich und authentisch war wie alleine am Klavier. Weitere atmosphärisch dichte und erinnerungswürdige Konzerte boten Wintersleep, Woodpigeon sowie Grizzly Bear, drei junge aufsteigende Bands, die den Trubel um sich redlich verdienen und sich psychodelische Experimente und ausufernde Songlängen leisten können ohne zu langweilen.

Bei so viel künstlerischem Potential und der absolut geglückten Zusammenstellung der Bands bleibt nur eine Frage: Was hatten Fettes Brot als Headliner und Abschlusskonzert auf der Haldernbühne zu suchen? Ähnlich wie bei Jan Delay vor zwei Jahren passte der Auftritt der Hamburger Feierproleten nicht in das sonst so glasklare Konzept und die Stimmung des Wochenendes.

Dennoch war das Haldern wieder ein Platz zum glücklich sein, sei es für das abgezapfte Popwasser, die Dusche vor der Bühne, den See, die Sonne, die Spiegelzeltleinwand oder einfach nur für den Refrain, den Schlussakkord oder den Bart des Sängers.
Wir kommen wieder!
foto:


haldern pop

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